Die Tatarin
hatte die Angst des Zarewitschs ebenfalls wahrgenommen, doch seine Überlegungen gingen in eine andere Richtung. Jakowlew, Kirilin und Lopuchin hatten vieles gesagt und getan, das seinen Verdacht bestätigte, sie könnten in eine Verschwörung gegen den Zaren verwickelt sein. Bislang hatte er die Angelegenheit eher für Gejammer und müßige Gedankenspielerei unzufriedener und unterbeschäftigter Offiziere gehalten, die sich vom Frontdienst hatten drücken können. Nun aber erinnerte er sich an Gerüchte, denen zufolge der Zar seinen Sohn verachtete und für unfähig hielt. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Alexej Petrowitsch sich aus eigener Kraft gegen seinen Vater empören würde, aber er schien, wie Sergej eben mit eigenen Augen gesehen hatte, tatsächlich stark unter dem Einfluss seines Beichtvaters, des Protopopen Ignatjew, zu stehen. Diesem fanatisch wirkenden Mann traute Sergej es hundertmal zu, eine Verschwörung gegen den Zaren zu planen und sie auch zu steuern. Möglicherweise war er es, der Offiziere wie Lopuchin und Kirilin um den Zarewitsch versammelt hatte, um mit ihrer Hilfe die Macht im Russischen Reich an sich zu reißen.
Sergej kannte keine Antwort auf die vielen Fragen, die sich aus seinem neuen Blickwinkel ergaben, aber eines war für ihn gewiss: Erwürde seine Augen offen halten und das Seine dazu tun, Schaden von Russland abzuwenden. Aber als er seine Möglichkeiten auslotete, musste er über sich selbst lachen. Was vermochte ein kleiner Dragonerhauptmann wie er schon gegen Männer wie Jakowlew, Lopuchin, Ignatjew oder gar dem Zarewitsch auszurichten?
DRITTER TEIL
Der Zar
I.
Bei ihrer Ankunft in Moskau war Schirin vom Glanz goldener Kuppeln begrüßt worden. Daran musste sie unwillkürlich denken, als sie durch die Gegend ritten, in der nach Wanjas Aussage Sankt Petersburg liegen sollte. Hier gab es nichts als Nebel, der schließlich so dicht und bedrückend über dem Land hing, dass man gerade noch den Kopf seines eigenen Pferdes erkennen konnte, aber nicht einmal mehr den Weg, der in die neue Stadt des Zaren führen sollte. Schirin hoffte inständig, dass Sergej, der an der Spitze ritt, wusste, was er tat. Wenn die Gruppe von dem schlammigen, von großen Wasserpfützen unterbrochenen Pfad abwich, der sich bis auf die Reisigbündel, die ihn markierten und mit denen die tiefsten Löcher aufgefüllt worden waren, kaum von dem Sumpf ringsum unterschied, würden sie alle in dem grundlosen Land versinken und niemals mehr gefunden werden. Es war Schirins Zuversicht nicht sonderlich förderlich, dass Goldfells Hufe gerade in dem Moment, in dem sie sich ihr ruhmloses Ende in diesem Morast vorstellte, in eine besonders tiefe Lache klatschten und sie mit einer ekligen Brühe überschütteten, die nach Pferdemist und Verfaultem schmeckte. Sie spuckte mehrfach aus und rieb mit dem Ärmel ihres Mantels über den Mund, aber der Dreck knirschte weiter zwischen ihren Zähnen, und ihr Magen rebellierte.
Sie maß Wanja, der dicht neben ihr ritt, mit einem anklagenden Blick. »Bei Allah, in welche elende Gegend verschleppt ihr uns? Das ist ein Land für Dämonen, aber nicht für Menschen!«
»Hier leben eine ganze Menge Leute, dafür hat Väterchen Zar schon gesorgt«, antwortete der Wachtmeister so stolz, als habe er dieses Wunder vollbracht. Dann aber verzog sich sein Gesicht. »Gegen dieses Wetter und den Dreck kann nichts anderes helfenals ein großes Glas Wodka. Aber unsere Vorräte sind leider aufgebraucht, und vor Sankt Petersburg wird es keinen neuen geben.«
Wenn wir je dort ankommen!, dachte Schirin, sprach es aber nicht aus, um nicht die Geister auf sich aufmerksam zu machen, die furchtsame Reisende ins Verderben zu locken pflegten.
Wanja ahnte Bahadurs Ängste und versuchte, ihn zu beruhigen. »Im Sommer soll die Gegend recht schön sein, aber jetzt im Herbst muss man schon das Gemüt des Zaren haben, um sich hier wohl zu fühlen.«
Schirin verzog die Lippen zu dem Lachen, das Wanja für seine Worte erwartete, doch es wurde nur ein etwas klägliches Grinsen daraus. Als sie in Moskau erfahren hatte, in welcher Gesellschaft sie weiterreisen musste, hatte sie einen gewissen Waffenstillstand mit dem Wachtmeister und seinem Hauptmann geschlossen. Die vielen Soldaten, die den Zug nun begleiteten, störten sie nicht weiter, doch die Gardeoffiziere, unter denen sich auch Kirilin, Lopuchin, Schischkin und einige ihr nicht minder unsympathische Russen befanden, waren ihr von Herzen zuwider.
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