Die Tatarin
in die Ferne sehen. Für einen Augenblick glaubte sie, am Horizont Land erkennen zu können, aber bald wurde ihr bewusst, dass sie nur einen Wolkenfetzen für das jenseitige Ufer gehalten hatte.
Wenig später entdeckte sie wieder einen dunklen Streifen am Horizont, und diesmal musste es sich um Land handeln, denn kurz darauf änderten die Matrosen die Segelstellung, so dass die Sankt Nikofem auf die andere Seite schwang und an einer kleinen, felsigen Insel vorbeifuhr.
Schirin ängstigte die schier endlos erscheinende Weite des Meeres, und doch genoss sie die Fahrt. Die übrigen Geiseln aber stöhnten und jammerten und wurden schließlich von einigen kräftigen Matrosen an die Reling getrieben.
»Wenn ihr schon kotzen müsst, füttert gefälligst die Fische und verschmutzt nicht unser Deck!«, brüllte einer die zu einem Häuflein Elend zusammengeschmolzenen Steppenkrieger an.
»Wer das Deck dreckig macht, schrubbt es hinterher!«, warnte ein anderer.
In ihrem Elend reagierten die unfreiwilligen Passagiere kaum auf die Drohungen. Wanja und die beiden Dragoner, die als Bewacher der Geiseln an Bord gekommen waren, hingen ebenfalls mit grünen Gesichtern an der Reling und bedauerten jeden Bissen, den sie beim Frühstück genossen hatten. Sergej war etwas blass um die Nase, doch nach einem neidischen Blick auf Bahadur, der das rollende, stampfende Schiff sogar zu genießen schien, widerstand er dem Drängen seines Magens, denn er wollte nicht vor einem Tatarenjungen das Gesicht verlieren.
Schirin war insgeheim froh, dass sie nur Brot und Wasser zu sich genommen hatte, denn ihre Übelkeit verging bald, und sie wurde mit jeder Seemeile, die die Sankt Nikofem zurücklegte, sicherer auf den Beinen. Nach einer Weile traute sie sich, freihändig zum Bug zu gehen und sich in die Spritzer der aufschäumenden Gischt zu stellen. Der Zar und einige Matrosen nickten sich anerkennend zu. Besser als dieser junge Tatar hatte sich bislang kaum eine Landratte an Bord ihrer Schiffe eingeführt.
Eine Zeit lang sah Schirin den Möwen zu, die am Himmel ihre Kreise zogen und dabei so misstönend schrien, dass es ihr in den Ohren wehtat. Dabei entdeckte sie eine Wolke am Horizont, die regelmäßig auftauchte und wieder verschwand. Als der Bug sich auf einer besonders hohen Welle emporschraubte, kam ihr der Verdacht, dass es sich um die Segel eines ähnlichen Schiffes handeln konnte.
Sie winkte einen der Schiffsoffiziere zu sich. »Sind das da vorne auch Schiffe des Zaren?«
Der Mann deckte die Augen ab, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, und starrte nach vorne. Mit einem Mal drehte er sich erschrocken um und eilte auf den Zaren zu. »Väterchen, da sind Segel voraus, und ich will verdammt sein, wenn es keine Schweden sind!«
»Übernimm du das Steuer!«, rief Pjotr Alexejewitsch dem Mann zu, eilte zum vorderen Mast und kletterte eilig die Wanten hoch. Auf einer kleinen Plattform blieb er stehen und blickte angestrengt nach vorne.
Er zählte drei Schiffe, die noch zu weit entfernt waren, um die Flaggen auf den Masten erkennen zu können. Dort schien man bereits auf die Sankt Nikofem aufmerksam geworden zu sein und steuerte nun auf sie zu. Pjotr Alexejewitsch hielt sich mit einer Hand fest und rieb sich mit der anderen nervös über die Augen. Es war ein Fehler gewesen, auf besser bewaffnete Begleitschiffe zu verzichten, und er wusste nicht, über was er sich mehr ärgern sollte: über seinen Leichtsinn oder über die Dreistigkeit der Schweden, so dicht vor Sankt Petersburg zu kreuzen.
Schnell besann er sich und brüllte seine Befehle über Deck. »Alle Mann auf ihre Posten! Wir wenden! Bringt die Sibirier unter Deck, damit sie uns nicht im Weg herumstehen!«
Als die Matrosen die anderen Geiseln wie verängstigte Schafe eine Treppe hinab ins Innere des Schiffes trieben, zog Schirin sich bis zur Heckreling zurück, in der Hoffnung, dort, wo sie niemanden störte, bleiben zu können. Ein Matrose warf ihr einen grimmigen Blick zu, doch bevor er etwas sagen konnte, rief der Steuermann ihn zu Hilfe. Die beiden Männer stemmten sich mit aller Kraft in die Speichen des fast mannshohen Rades, bis der Bug des Gaffelschoners sich langsam von den feindlichen Schiffen wegdrehte, die schon so nahe gekommen waren, dass man das blaue Tuch mit dem gelben Kreuz an ihren Mastspitzen erkennen konnte. Schirins Blick wanderte unwillkürlich zur Spitze des Großmasts, an dem eine weiße Fahne mit blauem Schrägkreuz wehte. Im gleichen Augenblick,
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