Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Freund Matsudaira Sadanobus und ranghohes Akademiemitglied sittlicher Verfehlungen bezichtigen. Die Mönche dort führen ein gewöhnliches Klosterleben und die Nonnen ebenso.»
Uzaemon möchte die Gerüchte hören und gleichzeitig nicht hören.
«Wo steckt Abt Enomoto heute Abend eigentlich?», erkundigt sich Yanaoka.
«Er ist in Miyako», sagt Awatsu, «um einige schwerverständliche geistliche Fragen zu klären.»
«An seinem Hof in Kashima», sagt Arashiyama. «Um Recht zu sprechen, habe ich gehört.»
«Ich habe gehört, er ist auf die Insel Tsu gereist», sagt Ozono, «um sich mit koreanischen Händlern zu treffen.»
Die Tür wird aufgeschoben: Freudige Erregung geht durch den Saal.
Doktor Marinus und Sugita Genpaku, einer der berühmtesten noch lebenden Niederländischgelehrten, stehen in der Tür. Der fast lahme Marinus stützt sich auf seinen Stock, der alte Sugita sich auf einen Hausdiener. Die beiden necken sich vergnügt, wer als Erster den Saal betreten darf. Sie regeln die Frage mit einer Runde Schere, Papier, Stein. Marinus gewinnt und besteht darauf, Sugita den Vortritt zu lassen.
«Sehen Sie nur», Yanaoka reckt den Hals, «die Haarfarbe des Ausländers!»
Ogawa Uzaemon sieht, wie Jacob sich den Kopf am Türrahmen stößt.
«Noch vor dreißig Jahren», Sugita Genpaku sitzt auf dem niedrigen Rednersockel, «gab es in Japan nur drei Gelehrte der Hollandkunde und ein einziges Buch: den alten Mann, den Sie hier vor sich sehen, Dr. Nakagawa Jun’an und meinen lieben Freund Dr.Maeno, zu dessen jüngsten Entdeckungen ...», er dreht mit den Fingern seinen dünnen weißen Bart auf, «... offenbar das Elixier der Unsterblichkeit gehört, denn er ist nicht um einen Tag gealtert.»
Dr. Maeno schüttelt freudig-verlegen den Kopf.
«Bei dem Buch», Sugita neigt den Kopf zur Seite, «handelte es sich um Kulmus’ Anatomische Tabellen , gedruckt in Holland. Ich hatte es während meines ersten Besuches in Nagasaki entdeckt und wollte es unbedingt besitzen. Aber ich konnte den verlangten Preis so wenig zahlen, wie ich zum Mond schwimmen konnte. Meine Familie kaufte es für mich und besiegelte damit mein Schicksal.» Sugita legt eine Pause ein und lauscht mit sachkundigem Interesse, während Dolmetscher Shizuki seine Rede für Marinus und de Zoet übersetzt.
Uzaemon hat Dejima bewusst gemieden, seit die Shenandoah abgesegelt ist, und jetzt weicht er Jacobs Blicken aus. Seine Schuldgefühle wegen Orito sind auf so vielfältige Weise mit dem Niederländer verknüpft, dass er die einzelnen Fäden nicht entwirren kann.
«Maeno und ich gingen mit den Anatomischen Tafeln zum Richtplatz in Edo», fährt Sugita fort, «wo eine Gefangene namens Mutter Tee, die ihren Ehemann vergiftet hatte, zum Tode durch einstündiges Strangulieren verurteilt worden war.» Shizuki stolpert beim Wort «strangulieren»: Er stellt die Handlung gestisch dar. «Wir schlossen einen Handel ab. Als Gegenleistung für eine schmerzlose Enthauptung erlaubte sie uns, an ihrer Leiche die erste medizinische Sektion in Japan durchzuführen, und unterschrieb einen Eid, dass ihr Geist uns nicht aus Rache heimsuchen würde ... Als wir die inneren Organe der Probandin mit den Zeichnungen im Buch verglichen, stellten wir zu unserem Erstaunen fest, dass die chinesischen Quellen, die bis dahin unser Wissen geprägt hatten, höchst ungenau waren. Die Lungen hatten keine ‹Ohren›, es gab auch keine ‹sieben Nierenlappen›, und die Gedärme unterschieden sich deutlich von den Beschreibungen der Alten Weisen ...»
Sugita wartet, bis Shizuki den Teil übersetzt hat.
De Zoet , denkt Uzaemon, sieht hagerer aus als im Herbst.
«Die Anatomischen Tafeln stimmten mit der sezierten Leiche jedoch so exakt überein, dass die Doktoren Maeno, Nakagawa und ich zu demselben Schluss gelangten: Die europäische Medizin ist der chinesischen überlegen. Heute, da wir in jeder Stadt niederländische Medizinhochschulen haben, versteht sich diese Aussage von selbst. Vor dreißig Jahren aber kam eine solche Ansicht einem Vatermord gleich. Obwohl wir nur ein paar hundert niederländische Wörter beherrschten, beschlossen wir, die Anatomischen Tafeln ins Japanische zu übersetzen. Einige wenige unter Ihnen haben möglicherweise von unserem Kaitai Shinsho gehört.»
Das Publikum erfreut sich an der Untertreibung.
Shizuki übersetzt «Vatermord» mit «schweres Verbrechen» ins Niederländische.
«Unsere Aufgabe war gewaltig.» Sugita Genpaku zieht die buschigen
Weitere Kostenlose Bücher