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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Der Engländer Bacon drückt es treffend aus: ‹Der menschliche Verstand gleicht einem unebenen Spiegel zur Auffassung der Gegenstände, welcher ihrem Wesen das Seinige beimischt und so jenes verdreht und verfälscht.› Unser ehrenwerter Kollege Herr Takaki kennt die Stelle vielleicht?»
    Arashiyama meistert das Wort «Scharlatanerie», indem er es weglässt, zensiert die Stelle über den Tyrannen und das Volk und wendet sich an den kerzengeraden Takaki, einen Bacon-Übersetzer, der das Zitat in dem üblichen gereizten Ton übersetzt.
    «Noch steckt die Wissenschaft in den Anfängen ihrer Entwicklung. Aber der Tag wird kommen, an dem sie zu einem menschlichen Wesen heranreift. Akademien wie die Shirandō, meine Herren, sind ihre Kinderstube, ihre Schule. Vor einigen Jahren bestaunte ein kluger Amerikaner, Benjamin Franklin, einen Heißluftballon, der über London flog. Sein Begleiter bezeichnete den Ballon als Tand und alberne Spielerei und fragte Franklin: «Wozu soll so ein Ballon gut sein?» Franklin antwortete: ‹Wozu ist ein neugeborenes Kind gut?›»
    Uzaemon liefert eine seinem Ermessen nach ordentliche Übersetzung, bis er zu den Wörtern ‹Tand› und ‹Spielerei› kommt. Goto und Arashiyama geben mit bedauernden Mienen zu verstehen, dass sie nicht weiterhelfen können. Das Publikum beäugt ihn kritisch. Mit leiser Stimme sagt Jacob de Zoet: «Das Spielzeug eines Kindes.» Durch das Ersatzwort wird die Anekdote verständlich, und hundert Gelehrte nicken zustimmend.
    «Ein Mensch», fährt Marinus fort, «der vor zweihundert Jahren eingeschlafen und erst heute Morgen wieder aufgewacht wäre, würde wohl feststellen, dass die Welt sich im Grunde nicht geändert hat. Schiffe sind immer noch aus Holz, noch immer grassieren Krankheiten. Niemand kann sich schneller fortbewegen als ein galoppierendes Pferd, und niemand kann einen anderen Menschen außerhalb der Sichtweite töten. Würde derselbe Mensch jedoch heute Nacht einschlafen und erst in hundert, achtzig oder sogar schon in sechzig Jahren wieder aufwachen, würde er die Welt infolge der vielen, durch die Wissenschaft hervorgebrachten Veränderungen nicht wiedererkennen.»
    Goto vermutet, dass «grassieren» «töten» bedeutet, und braucht für den letzten Satz zwei Anläufe.
    Marinus blickt derweil versonnen über die Köpfe der Gelehrten hinweg.
    Yoshida Hayato zeigt mit einem Räuspern an, dass er eine Frage stellen möchte.
    Ōtsuki Monjurō sieht den geistesabwesenden Marinus an und erteilt Yoshida mit einem Nicken das Wort.
    Yoshida schreibt besser Niederländisch als viele Dolmetscher, aber der Geograph fürchtet sich, vor den anderen Gelehrten einen Fehler zu machen, und wendet sich auf Japanisch an Goto Shinpachi. «Bitte fragen Sie Dr. Marinus Folgendes, Dolmetscher: Wenn die Wissenschaft empfindungsfähig ist, was ist dann ihr größter Wunsch? Oder um die Frage anders zu formulieren, wenn der erfundene Schläfer des Herrn Doktor im Jahr 1899 aufwacht, ähnelt die Welt dann eher dem Paradies oder der Hölle?»
    Gotos Übersetzung aus dem Japanischen ins Niederländische ist langsamer und holpriger, aber Marinus freut sich über die Frage. «Das weiß ich erst, wenn ich es sehe, Herr Yoshida.»

[Menü]
    XVII

    Der Altarraum im Haus der Schwestern, Shiranui-Schrein

    Der sechsundzwanzigste Tag des elften Monats
     
    Bitte, nicht ich , betet Orito, bitte, nicht ich. Die Göttin wurde zur Verkündung der Gabenempfängerinnen entkleidet: Ihre nackten, üppigen Brüste sind voll mit Milch, und in ihrem nabellosen geschwollenen Bauch liegt ein weiblicher Fötus, der laut Äbtissin Izu so fruchtbar ist, dass in seiner winzigen Gebärmutter ein noch kleinerer weiblicher Fötus liegt, welcher mit einer noch kleineren Tochter schwanger ist ... und unendlich so weiter. Die Äbtissin beobachtet die neun unbeschenkten Schwestern, während das Sutra der demütigen Bitte gesprochen wird. Zehn Tage lang hat Orito die reumütige Tochter gespielt, damit man ihr Zutritt zum Schreingelände gewährt und sie unbemerkt über die Mauer fliehen kann, aber die Hoffnung war vergeblich. Sie hat sich vor diesem Tag gefürchtet, seit sie Yayois schwangeren Bauch gesehen und die Zusammenhänge begriffen hat, und nun ist der Tag da. Unter den Schwestern wurde eifrig spekuliert, auf wen die Wahl der Göttin wohl fallen werde. Für Orito war das unerträglich. «Die Jüngste Schwester ist sicher eine von den beiden», verkündete Umegae mit boshafter Genugtuung. «Die

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