Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
weißen Brauen gerade. «Oft dauerte es viele Stunden, bis wir die Bedeutung eines einzelnes Wortes ermittelt hatten, nur um anschließend festzustellen, dass es keine japanische Entsprechung gab. Wir erschufen Wörter», der alte Mann ist nicht frei von Eitelkeit, «die unser Volk für alle Zeit benutzen wird. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, das Wort ‹shinkei› für das niederländische Wort ‹nerv› ersann ich während eines Austernessens. Es war, wie das Sprichwort sagt: ‹Wenn ein einziger Hund anfängt, einen Schatten anzubellen, machen zehntausend Hunde daraus eine Wirklichkeit› ...»
In der letzten Pause flieht Uzaemon vor de Zoet in den vorwinterlichen Garten. Ein schauerliches Geheul aus dem Saal wird von erschrockenem Gelächter begleitet: Direktor Ōtsuki demonstriert den Dudelsack, den er Anfang des Jahres bei Arie Grote gekauft hat. Uzaemon setzt sich unter eine riesige Magnolie. Der Himmel ist sternenlos, und der junge Mann denkt zurück an den Nachmittag vor anderthalb Jahren, als er seinen Vater nach dessen Meinung bezüglich einer Heirat mit Aibagawa Orito fragte. «Dr. Aibagawa ist ein großer Gelehrter, aber soweit ich weiß, sind seine Schulden noch größer. Doch die entscheidende Frage ist: Was, wenn sie ihr verbranntes Gesicht an meine Enkelsöhne weitergibt? Die Antwort muss nein heißen. Falls ihr zärtliche Worte miteinander getauscht habt ...», sein Vater verzog das Gesicht, als hätte er etwas Schlechtes gerochen, «... musst du deine Gefühle unverzüglich verleugnen.» Uzaemon flehte seinen Vater an, noch einmal über eine Verbindung nachzudenken, aber Ogawa der Ältere schrieb einen erzürnten Brief an Oritos Vater. Der Diener kam mit einer kurzen Mitteilung des Arztes zurück, in der sich dieser für die Unannehmlichkeiten entschuldigte, die seine verwöhnte Tochter verursacht habe, und versicherte, dass die Angelegenheit hiermit erledigt sei. Der trostloseste aller Tage endete damit, dass Uzaemon einen letzten Brief von Orito erhielt, den kürzesten ihres geheimen Briefwechsels. Er schloss mit: «Ich könnte niemals zulassen, dass dein Vater meinetwegen bereut, dich adoptiert zu haben ...»
Uzaemons Eltern sahen sich durch die «Affäre Aibagawa» veranlasst, ihrem Sohn eine Frau zu suchen. Eine Heiratsvermittlerin kannte eine Familie in Karatsu, die zwar von niederem Stand, aber sehr vermögend war, denn sie unterhielt ein blühendes Geschäft mit Färbemitteln und war erpicht auf einen Schwiegersohn auf Dejima, über den sie an importiertes Sappanholz kommen könnte. Man führte Omiai-Gespräche, und schließlich wurde Uzaemon mitgeteilt, dass die Tochter eine akzeptable Partie für einen Ogawa sei. Sie heirateten am Neujahrstag, zu einer Stunde, die vom Astrologen der Familie als glücklich bestimmt worden war. Das Glück , denkt Uzaemon, lässt noch auf sich warten. Erst vor ein paar Tagen hatte seine Frau die zweite Fehlgeburt, ein Unglück, das seine Eltern auf «mutwillige Unachtsamkeit» beziehungsweise «charakterliche Schwäche» zurückführen. Uzaemons Mutter betrachtet es als ihre Pflicht, ihre Schwiegertochter genauso leiden zu lassen, wie sie als junge Braut im Hause der Ogawas gelitten hat. Ich empfinde Mitleid für meine Frau , gesteht Uzaemon sich ein, aber der niedere Mensch in mir kann ihr nicht verzeihen, dass sie nicht Orito ist. Was Orito auf dem Shiranui erdulden muss, kann Uzaemon nur vermuten: Einsamkeit, Schinderei, Kälte, Kummer über ihren Vater und ihr gestohlenes Leben und gewiss auch Groll darüber, dass die Gelehrten der Shirandō-Akademie in ihrem Entführer einen großen Wohltäter sehen. Würde Uzaemon den Fürstabt, den wichtigsten Geldgeber der Akademie, über die neueste Schwester seines Schreins befragen, wäre das ein geradezu skandalöser Verstoß gegen die Etikette und käme einer Anschuldigung gleich. Der Schrein ist gegenüber Fragen von außerhalb des Lehens so verschlossen wie Japan gegenüber der Welt. Aber solange Uzaemon nicht sicher weiß, dass es Orito gutgeht, quälen ihn seine Phantasien ebenso wie sein Gewissen. Als Dr. Aibagawa im Sterben lag, hatte er gehofft, er könne Orito auf Dejima halten, indem er Jacob de Zoet ermutigte oder wenigstens nicht entmutigte, ihr einen Antrag für eine Zeitehe zu machen. Er stellte sich vor, dass de Zoet Japan irgendwann verlassen oder, wie bei den Ausländern üblich, seiner Trophäe überdrüssig werden würde, und hoffte insgeheim, dass sie dann bereit sein würde, sich als
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