Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
notwendige Maßnahme. Aber heute wird die Welt von anderen Mechanismen der Macht bestimmt. Was wir aus niederländischen Berichten und chinesischen Quellen erfahren, ist eine ernstzunehmende Warnung. Völker, die sich diese Mechanismen nicht aneignen, werden bestenfalls unterjocht wie die Inder. Schlimmstenfalls werden sie ausgerottet wie die Ureinwohner von Van-Diemens-Land.»
«Yoshida-sans Loyalität», räumt Haga ein, «steht außer Frage. Aber ich bezweifle, dass eine Armada europäischer Kriegsschiffe in die Häfen von Edo oder Nagasaki segeln wird. Sie plädieren für revolutionäre Veränderungen in unserem Land, aber wozu? Um einem Phantom entgegenzutreten? Um sich einem hypothetischen ‹Was wäre, wenn?› zu stellen?»
«Die Gegenwart ist ein Schlachtfeld», Yoshida macht sich so gerade, wie sein schmerzender Rücken es zulässt, «auf dem rivalisierende Hypothesen darum kämpfen, die Tatsachen von morgen zu werden. Wie siegt die eine Hypothese über ihre Kontrahenten? Die Antwort ...», der kranke Mann hustet, «... die Antwort ‹Natürlich mit militärischer und politischer Macht!› ist eine Ausflucht, denn was lenkt die Köpfe der Mächtigen? Die wahre Antwort heißt: Überzeugungen. Niedrige Überzeugungen, idealistische, demokratische oder konfuzianische, abendländische, morgenländische, kleinmütige oder kühne, hellsichtige oder wahnhafte. Macht ist beseelt von der Überzeugung, dass dieser Weg und kein anderer beschritten werden muss. Aber was ist oder wo liegt der Schoß dieser Überzeugung? Was nährt eine solche Weltanschauung? Mitglieder der Shirandō, ich sage Ihnen, wir sind die Nährenden. Wir sind ein solcher Schoß.»
In der ersten Pause werden die Laternen angezündet, wärmespendende Kohlenbecken werden geschürt, und im Saal wird aufgeregt diskutiert. Die Dolmetscher Uzaemon, Arashiyama und Goto Shinpachi sitzen mit fünf, sechs anderen zusammen. Der Algebraiker Awatsu entschuldigt sich bei Uzaemon für die Störung, «aber ich hatte gehofft zu hören, dass es der Gesundheit Ihres Vaters bessergeht ...»
«Er hütet weiterhin das Bett», antwortet Uzaemon, «aber das hindert ihn nicht daran, seinen Willen durchzusetzen.»
Alle, die Ogawa den Älteren aus dem obersten Dolmetscherrang kennen, lächeln mit gesenkten Köpfen.
«Was fehlt dem Herrn denn?», erkundigt sich Yanaoka, ein Arzt aus Kumamoto mit vom Sake gerötetem Gesicht.
«Dr. Maeno glaubt, Vater leidet an einem Krebs, der -»
«Eine bekanntermaßen äußerst schwierige Diagnose! Ich werde ihn gleich morgen untersuchen!»
«Das ist sehr freundlich von Dr. Yanaoka, aber Vater ist sehr eigen, was -»
«Ach kommen Sie, ich kenne Ihren ehrenwerten Vater seit zwanzig Jahren!»
Ja, denkt Uzaemon, und er verachtet dich seit vierzig.
« Zu viele Kapitäne», sagt Awatsu, «steuern das Schiff auf den Felsen. Dr. Maeno leistet zweifellos Hervorragendes. Ich werde für seine rasche Genesung beten.»
Die anderen versprechen, das Gleiche zu tun, und Uzaemon drückt Ihnen die angemessene Dankbarkeit aus.
«Ein weiteres Gesicht, das ich vermisse», bemerkt Yanaoka, «ist Doktor Aibagawas entstellte Tochter.»
«Dann haben Sie noch nicht von der glücklichen Fügung gehört?», fragt Dolmetscher Arashiyama. «Die Finanzen des verstorbenen Arztes waren in einem so furchtbaren Zustand, dass es hieß, die Witwe würde das Haus verlieren. Als Fürstabt Enomoto von den Nöten der Familie erfuhr, beglich er sämtliche Schulden - und brachte die Tochter in seinem Konvent auf dem Shiranui unter.»
«Das nennen Sie ‹glückliche Fügung›?» Uzaemon bereut die Bemerkung auf der Stelle.
«Jeden Tag eine volle Schüssel Reis», sagt Ozono, der untersetzte Drogist, «dafür, dass man ein paar Sutras aufsagt? Für eine Frau, die wegen ihres Makels nicht zu verheiraten ist, ist das mehr als eine glückliche Fügung! Ach, ich weiß, dass ihr Vater sie stets ermutigte, die Gelehrte zu spielen, aber man muss doch Verständnis für die Witwe haben. Wozu soll die Tochter eines Samurais als Hebamme dilettieren und sich mit schwitzenden Holländern abgeben?»
Uzaemon beißt sich auf die Zunge.
Banda, ein bodenständiger Ingenieur aus dem sumpfigen Sendai, sagt: «Während meines Aufenthalts in Isahaya hörte ich ein paar eigenartige Gerüchte über Fürstabt Enomotos Schrein.»
«Sie sollten den Gerüchten über Fürst Enomotos Schrein kein Gehör schenken», ermahnt ihn Awatsu heiter, «außer natürlich, Sie wollen einen engen
Weitere Kostenlose Bücher