Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
gemütliche Stimmung. Als der Tisch abgeräumt ist und das Geschirr und die Stäbchen abgewaschen sind, zünden sich die Schwestern Pfeifen an, erzählen einander Geschichten, spielen Mahjongg, lesen zum wiederholten Male ihre Neujahrsbriefe oder lassen sie sich vorlesen und lauschen Hatsunes Spiel auf dem Koto. Orito fällt auf, dass die Wirkung des Trosts jeden Abend ein wenig früher nachlässt. Wie gewöhnlich zieht sie sich zurück, ohne den anderen gute Nacht zu wünschen. Sie ahnt, was die Frauen denken: Wartet nur, bis sie beschenkt wurde. Wartet nur, bis ihr Bauch dick ist wie ein Felsblock und wir ihr beim Putzen und Tragen helfen müssen.
Als sie ihre Zelle betritt, sieht Orito, dass jemand für sie Feuer gemacht hat. Yayoi.
Umegaes Boshaftigkeit und Kagerōs Feindseligkeit bestärken sie nur darin, das Haus der Schwestern abzulehnen. Aber Yayois Güte , befürchtet sie, macht das Leben erträglicher ...
... und bringt sie dem Tag näher, an dem sie auf dem Shiranui zu Hause sein wird.
Wer sagt mir , denkt sie, dass Yayoi nicht auf Weisung Genmus handelt?
Unruhig und vor Kälte zitternd, wäscht Orito sich mit einem Lappen.
Sie schlüpft unter die Decke, legt sich auf die Seite und blickt in den Garten aus Feuer.
Die Äste des Persimonenbaums senken sich unter der Last seiner reifen Früchte. Sie leuchten in der Abenddämmerung.
Ein Wimpernschlag am Himmel wird zu einem Reiher: Der ungelenke Vogel stößt herab ...
Seine Augen sind grün, das Federkleid ist rot; Orito fürchtet sich vor seinem ungeschickten Schnabel.
Du bist schön, sagt der Reiher, natürlich auf Niederländisch.
Orito möchte ihn nicht ermutigen, aber auch nicht kränken.
Sie steht im Hof des Hauses der Schwestern: Sie hört Yayoi stöhnen.
Tote Blätter fliegen umher wie Fledermäuse; Fledermäuse fliegen umher wie tote Blätter.
Wie kann ich von hier fliehen? Bestürzt sieht sie sich um. Das Tor ist abgeschlossen.
Seit wann , spottet die mondgraue Katze, brauchen Katzen einen Schlüssel?
Wir haben keine Zeit , stößt sie ärgerlich hervor, in Rätseln zu sprechen.
Gaukle ihnen vor , sagt die Katze, dass du hier glücklich bist.
Warum , fragt sie, soll ich ihnen diesen falschen Triumph gönnen?
Weil sie nur dann , antwortet die Katze, davon ablassen, dich zu beobachten .
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XVI
Die Shirandō-Akademie im Hause Ōtsuki in Nagasaki
Sonnenuntergang am vierundzwanzigsten Tag des zehnten Monats
«Ich folgere daraus ...», Yoshida Hayato, der immer noch jugendlich wirkende Autor einer wissenschaftlichen Monographie über das wahre Alter der Erde, mustert die achtzig bis neunzig Gelehrten im Publikum, «... dass es sich bei der weitverbreiteten Überzeugung, Japan sei eine uneinnehmbare Festung, um einen tückischen Trugschluss handelt. Verehrte Mitglieder der Akademie, wir sind ein marodes Bauernhaus mit bröckelnden Mauern, einem einstürzenden Dach und raffgierigen Nachbarn.» Yoshida leidet an einer Knochenkrankheit, und es kostet ihn viel Kraft, seine Stimme in dem großen Saal hörbar zu machen. «Westlich von uns, nur eine halbe Tagesreise von der Insel Tsushima, leben die großsprecherischen Koreaner. Wer wird je die Banner vergessen, mit denen ihre Gesandten uns bei ihrer letzten diplomatischen Mission provozierten? ‹Überwachung der Herrschaftsgebiete› und ‹Wir sind die Reinheit›, womit sie uns selbstverständlich zu verstehen geben wollten: ‹Ihr seid unrein!›»
Einige Zuhörer brummen Zustimmung.
«Im Nordosten liegt das riesige Lehen Ezo, Heimat der wilden Ainu, aber auch der Russen, die unsere Küsten kartographieren und Anspruch auf die Insel Karafuto erheben. Sie nennen sie Sachalin. Vor nur zwölf Jahren benannte ein Franzose ...», Yoshida bereitet sich vor auf das schwierige Wort, «... La Pérouse, die Meerenge zwischen Ezo und Karafuto, nach sich selbst! Würden die Franzosen etwa eine Yoshida-Meerenge vor ihrer Küste dulden?» Ein gutes Argument, das gut beim Publikum ankommt. «Dass Kapitän Benjowski und Kapitän Laxman in unser Land eingedrungen sind, ist uns eine Warnung. In naher Zukunft werden umherziehende Europäer nicht mehr nur Proviant erbitten, sondern Handelsgenehmigungen, Speicher, Landeplätze, befestigte Häfen und ungleiche Verträge einfordern. Kolonien werden wie Unkraut aus dem Boden schießen. Dann werden wir begreifen, dass unsere ‹unbezwingbare Festung› nichts war als ein schöner Schein, dass unsere Meere keine ‹unpassierbaren Wassergräben›
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