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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Zweitfrau unter seinen Schutz zu begeben. «Schwachkopf», sagt Uzaemon zu dem Magnolienbaum, «Holzkopf, Starrkopf ...»
    «Wer ist ein Starrkopf?» Arashiyamas Schritte knirschen auf den Steinen.
    «Yoshida-samas provokative Äußerungen. Das waren gefährliche Worte.»
    Arashiyama verschränkt fröstelnd die Arme vor dem Körper. «In den Bergen soll schon Schnee liegen.»
    Meine Schuldgefühle wegen Orito , fürchtet Uzaemon, werden mich bis an mein Lebensende verfolgen.
    «Ōtsuki-sama schickt mich, Sie zu holen», sagt Arashiyama. «Dr. Marinus ist so weit, und wir müssen uns unser Abendessen verdienen.»
     
    «Die alten Assyrer», Marinus sitzt, das lahme Bein unbequem abgewinkelt, «benutzten zum Feuermachen gerundete Gläser. Archimedes der Grieche, so lesen wir, setzte die römische Flotte von Marcus Claudius Marcellus in Syrakus mit riesigen Parabolspiegeln in Brand, und Kaiser Nero benutzte angeblich eine Linse, um seine Kurzsichtigkeit zu korrigieren.»
    Uzaemon erklärt «Assyrer» und fügt vor «Syrakus» «die Stadt» ein.
    «Der Araber Ibn al-Haytam», fährt der Arzt fort, «von seinen lateinischen Übersetzern Alhazen genannt, schrieb sein Buch vom Sehen vor achthundert Jahren. Der Italiener Galileo und der Niederländer Lippershey verwendeten al-Haytams Entdeckungen, um die Geräte zu erfinden, die wir heute Mikroskope und Teleskope nennen.»
    Arashiyama bestätigt den arabischen Namen und liefert eine souveräne Übersetzung.
    «Die Linse und ihr Vetter, der geschliffene Spiegel, sowie ihre mathematischen Prinzipien haben sich über einen langen Zeitraum weiterentwickelt. Dank sukzessiven Fortschritts können Astronomen heute einen erst vor wenigen Jahren entdeckten Planeten hinter dem Saturn betrachten, den Georgium Sidus, der für das bloße Auge unsichtbar ist. Zoologen können das wahre Antlitz eines der treuesten Begleiter des Menschen bewundern ...

    ... Pulex irritans .» Einer von Marinus’ Famuli hält eine Zeichnung aus Hookes Micrographia hoch, während Goto die Übersetzung übernimmt. Die Gelehrten bemerken nicht, dass er den «sukzessiven Fortschritt» auslässt, eine Formulierung, die auch Uzaemon nicht versteht.
    De Zoet hört, nur wenige Schritte entfernt, von der Seite zu. Als Uzaemon seinen Platz auf dem Podium einnahm, wünschten sich beide einen guten Abend, aber der taktvolle Niederländer spürte die Zurückhaltung des Dolmetschers und drängte sich nicht weiter auf. Vielleicht wäre er ein würdiger Ehemann für Orito gewesen. Uzaemons großmütiger Gedanke ist von Eifersucht und Reue durchsetzt.
    Marinus späht durch den laternenhellen Rauch. Uzaemon überlegt, ob er seine Rede vorbereitet hat oder ob er seine Worte spontan aus der zum Schneiden dicken Luft greift. «Mikroskope und Teleskope werden von der Wissenschaft hervorgebracht, ihr Einsatz durch Männer und, wo gestattet, durch Frauen bringt neue Wissenschaft hervor. Die Geheimnisse der Schöpfung klären sich auf eine Weise, wie man es früher nie für möglich gehalten hätte. Die Wissenschaft vertieft und erweitert sich und sät sich selbst aus - und durch die Erfindung des Buchdrucks keimen ihre Sporen und Samen vielleicht sogar in diesem abgeschlossenen Reich.»
    Uzaemon gibt sein Bestes, diesen Teil zu übersetzen, aber das ist nicht einfach: Steht das unbekannte Verb «aussäen» in Zusammenhang mit dem niederländischen Wort «Samen»? Goto Shinpachi ahnt die Schwierigkeiten seines Kollegen und schlägt «verteilen» vor. Uzaemon vermutet, dass «keimen» bedeutet: «wird angenommen», aber die misstrauischen Blicke des gelehrten Publikums lassen ihn zögern: Wenn wir den Redner nicht verstehen, liegt die Schuld beim Dolmetscher.
    «Die Wissenschaft», Marinus kratzt sich am Stiernacken, «bewegt sich Jahr für Jahr auf ein neues Sein zu. War in der Vergangenheit der Mensch das Subjekt und die Wissenschaft sein Gegenstand, so kehrt sich dieses Verhältnis meiner Ansicht nach heute um. Die Wissenschaft, meine Herren, befindet sich an der Schwelle zur Empfindungsfähigkeit.»
    Goto übersetzt «Empfindungsfähigkeit» mit «die Fähigkeit, etwas zu erfinden». Seine japanische Übersetzung ist von Mystik durchzogen, aber so ist auch das Original.
    «Wie ein Feldherr bestimmt die Wissenschaft ihre Feinde: Volksweisheiten und ungeprüfte Vermutungen, Aberglaube und Scharlatanerie, die Furcht des Tyrannen vor einem gebildeten Volk und der schlimmste Feind von allen, der Hang des Menschen zum Selbstbetrug.

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