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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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schlugen sie am Fuß eines verlassenen Schreins des Fuchsgottes Inari unter einem alten moosbewachsenen Nussbaum ihr Lager auf. Der erste Hausierer, ein fröhlicher Geselle, verkaufte Bänder, Kämme und dergleichen. Er betörte die Mädchen, schmeichelte den jungen Männern, und er hatte gute Geschäfte gemacht. «Bänder gegen Küsse», sang er, «von all dem jungen Gemüse!» Der zweite Hausierer handelte mit Messern. Er war von finsterem Gemüt und glaubte, die Welt schulde ihm ein Auskommen, und sein Karren war voll unverkaufter Ware. An dem Abend, als diese Geschichte beginnt, wärmten sich die beiden am Feuer und unterhielten sich darüber, was sie bei ihrer Rückkehr nach Osaka tun würden. Der Bänderverkäufer wollte seine Jugendliebe heiraten, während der Messerhändler vorhatte, ein Pfandhaus zu eröffnen und mit möglichst wenig Arbeit möglichst viel Geld zu verdienen.»
    Sawarabis Schere schneidet sich schnipp, schnipp, schnipp durch einen Baumwollstreifen.
    «Bevor sie sich zur Ruhe legten, schlug der Messerverkäufer vor, sie sollten zu Inari-sama beten, damit er sie in der Nacht an diesem einsamen Flecken beschütze. Der Bänderverkäufer war einverstanden, doch als er sich vor den verlassenen Altar kniete, schlug ihm sein Begleiter mit der größten, nicht verkauften Axt den Kopf ab.»
    Mehrere Schwestern halten entsetzt den Atem an, und Sadaie stößt einen leisen Schrei aus. «Nein!»
    «A’ h er Sch’ h ester», sagt Asagao, «du hast doch gesagt, die ’ h eiden ’ h ären ’ H reunde.»
    «So dachte auch der arme Bänderverkäufer, Schwester. Aber der Messerverkäufer stahl seinem Begleiter das Geld, verscharrte seine Leiche und fiel in tiefen Schlaf. Ob er von Albträumen oder schrecklichen Lauten gequält wurde? Keineswegs! Am Morgen wachte er erholt auf, verspeiste zum Frühstück den Proviant seines Opfers und gelangte ohne Zwischenfälle nach Osaka. Mit dem Geld des Bänderverkäufers eröffnete er ein Pfandhaus, und schon bald war er so erfolgreich, dass er gefütterte Gewänder trug und mit silbernen Stäbchen die feinsten Delikatessen aß. Vier Frühlinge kamen, und vier Herbste gingen. Eines Nachmittags betrat ein schmucker Mann mit buschigem Haar und braunem Umhang das Pfandhaus und stellte eine Nussbaumkiste auf den Tresen. Er öffnete sie und nahm einen polierten Menschenschädel heraus. Der Pfandleiher sagte: ‹Die Kiste ist vielleicht ein paar Mon wert, aber warum zeigst du mir diesen alten Knochen?› Der Fremde entblößte lächelnd seine weißen Zähne und befahl dem Schädel: ‹Sing!› Und bei meinem Leben, Schwestern, der Schädel begann zu singen, und so klang sein Lied:
    Mit Lust sollst du leben, an Schönheit dich erbau’n
Beim Kranich, der Schildkröte und dem Goyō-Baum ...»
    Ein Holzscheit knackt, und die Frauen zucken zusammen.
    «Die drei Glückszeichen», sagt die blinde Minori.
    «So dachte auch der Pfandleiher», fährt Hatsune fort, «aber zu dem schmucken Fremden sagte er, dass der Markt überschwemmt sei mit derlei holländischem Krimskrams. Ob der Schädel nur für den Fremden oder für jedermann singe, fragte er. Der Fremde antwortete mit schmeichelnder Stimme, dass er allein für seinen wahren Besitzer singe. «Na schön», brummte der Pfandleiher, «hier hast du drei Koban: Verlange einen Mon mehr, und das Geschäft ist geplatzt.» Der Fremde verbeugte sich, legte schweigend den Schädel auf die Kiste, nahm das Geld und verließ das Geschäft. Sofort überlegte der Pfandleiher, wie sich das Wunderding am besten in bare Münze umsetzen ließe. Mit einem Fingerschnipsen befahl er den Dienern, die Sänfte zu holen, und ließ sich zur Höhle eines Rōnin bringen, ein herrenloser Samurai mit einer Schwäche für kuriose Wetten. Da der Pfandleiher ein vorsichtiger Mensch war, prüfte er unterwegs den Schädel und befahl ihm zu singen. Und tatsächlich sang der Schädel:
    Holz ist Leben, und Feuer ist Raum,
Beim Kranich, der Schildkröte und dem Goyō-Baum!
    Als er vor dem Samurai stand, zeigte er ihm die Neuerwerbung und verlangte für ein Lied seines neuen Freundes, dem Schädel, tausend Koban. Blitzschnell erwiderte der Samurai, dass er sich nicht für dumm verkaufen lasse und dass er dem Pfandleiher den Kopf abschlagen würde, wenn der Schädel nicht singe. Der Pfandleiher, der mit dieser Antwort gerechnet hatte, willigte ein und forderte im Gegenzug die Hälfte vom Vermögen des Samurai, sollte dieser die Wette verlieren. Der listige Samurai hielt

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