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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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den Pfandleiher für verrückt ... und witterte schnellen Reichtum. Sein Kopf sei wertlos, sagte er zum Pfandleiher und forderte als Gewinn sein gesamtes Vermögen. Hocherfreut, dass der Samurai angebissen hatte, erhöhte der Pfandleiher abermals den Einsatz und forderte ebenfalls das gesamte Vermögen seines Wettgegners ... vorausgesetzt natürlich, dieser wolle nicht aus Furcht einen Rückzieher machen. Darauf befahl der Samurai seinem Schreiber, die Wette als Blutschwur festzuhalten, und ließ das Schriftstück vom Bezirksaufseher beglaubigen, einem korrupten Gesellen, der mit zwielichtigen Geschäften bestens vertraut war. Dann legte der gierige Pfandleiher den Schädel auf eine Kiste und befahl: ‹Sing!›»
    Die Schatten der Frauen sind die Silhouetten banger Riesen.
    Hotaru platzt als Erste heraus: «Und dann? Was ist passiert, Schwester Hatsune?»
    «Nichts, Schwester. Der Schädel gab nicht einen Mucks von sich. Der Pfandleiher versuchte es ein zweites Mal. ‹Sing, befehle ich dir. Sing!›»
    Hausmutter Satsukis emsige Nadel steht still.
    «Der Schädel gab nicht einen Laut von sich. Der Pfandleiher wurde bleich. ‹Sing! Sing!› Aber der Schädel blieb stumm. Der Blutschwur lag vor ihnen, die rote Tinte noch feucht. Verzweifelt schrie der Pfandleiher den Schädel an: ‹Sing!› Wieder nichts. Der Pfandleiher erwartete kein Mitleid, und er bekam auch keines. Der Samurai ließ sein schärfstes Schwert holen, während der Pfandleiher Gebete stammelnd niederkniete. Und ab war der Kopf!»
    Sawarabi lässt ihren Fingerhut fallen: Er rollt zu Orito, die ihn aufhebt und zurückgibt.
    «Plötzlich aber», Hatsune nickt bedeutungsschwer, «begann der Schädel zu singen ...
    Bänder gegen Küsse von all dem jungen Gemüse!
Bänder gegen Küsse von all dem jungen Gemüse!»
    Hotaru und Asagao starren sie gebannt an. Umegaes spöttisches Lächeln ist verschwunden.
    «Der Samurai ...», Hatsune lehnt sich zurück und streicht den Kimono glatt, «... wusste, wann er es mit verfluchtem Silber zu tun hatte. Er spendete das Geld des Pfandleihers dem Sanjusandengo-Tempel. Der schmucke Fremde ward nie mehr gesehen. Wer weiß, vielleicht war es Inari-sama persönlich, der den Frevel rächen wollte, der an seinem Schrein verübt worden war. Der Schädel des Bänderverkäufers - wenn es denn seiner war - befindet sich noch heute in einem Alkoven in einem entlegenen, wenig besuchten Flügel des Tempels. Ein alter Mönch betet jedes Jahr am Tag der Toten für seine Ruhe. Wenn eine von euch nach ihrem Abstieg dort vorbeikommt, kann sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen ...»

    Der Regen zischt wie drohende Schlangen, die Dachrinnen gurgeln. Orito betrachtet die pochende Ader an Yayois Hals. Der Bauch verlangt nach Essen , denkt sie, die Zunge verlangt nach Wasser, das Herz verlangt nach Liebe, und der Geist verlangt nach Geschichten. Geschichten machen das Leben im Haus der Schwestern erträglich, Geschichten in allen möglichen Formen: die Briefe der Gaben, Klatsch, Erinnerungen und Lügenmärchen wie das von Hatsunes singendem Schädel. Sie denkt an Göttermythen, an Izanami und Izanagi, an Buddha und Jesus und möglicherweise an die Göttin vom Berg Shiranui, und sie fragt sich, ob hier nicht die gleichen Gesetze herrschen. Orito stellt sich den menschlichen Geist als Webstuhl vor, der aus den ungleichen Fäden von Glaube, Erinnerung und Erzählung etwas wirkt, das man gewöhnlich als «Ich» bezeichnet und das sich selbst manchmal «Wahrnehmung» nennt.
    «Das Mädchen», murmelt Yayoi, «geht mir einfach nicht aus dem Kopf.»
    «Welches Mädchen denn ...», Orito schlingt sich eine Strähne von Yayois Haar um den Daumen, «... du Schlafmütze?»
    «Die Liebste des Bänderverkäufers. Das Mädchen, das er heiraten wollte.»
    Du musst das Haus und Yayoi verlassen , ermahnt sich Orito. Bald.
    «Das ist so traurig.» Yayoi gähnt. «Sie wird alt, und irgendwann stirbt sie, ohne je die Wahrheit zu erfahren.»
    Das Feuer brennt hell oder dunkel, je nachdem, ob der Wind stark oder schwach weht.
    Über der eisernen Kohlenpfanne tropft es durch die Decke: Die Glut knistert und zischt.
    Der Wind rüttelt an den Schiebewänden im Kloster wie ein tobender Häftling.
    Yayois Frage kommt aus dem Nichts. «Bist du schon von einem Mann berührt worden, Schwester?»
    Orito ist an die direkte Art ihrer Freundin gewöhnt, aber nicht bei diesem Thema. «Nein.»
    Dieses «Nein» ist der Triumph meines Stiefbruders , denkt sie. «Meine

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