Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
und Hashihime ersinnen täglich eine Fülle von Gemeinheiten, um die Hausmutter daran zu erinnern, dass sie nur dazu da ist, ihnen das Leben angenehm zu machen. Sie steht in aller Frühe auf, geht spät zu Bett und ist von den privaten Gesprächen der Schwestern meistens ausgeschlossen. Orito fällt auf, wie gerötet ihre Augen sind und wie blass sie ist. «Verzeihen Sie die Frage», sagt die Arzttochter, «aber geht es Ihnen nicht gut?»
«Meine Gesundheit, Schwester? Meine Gesundheit ist ... zufriedenstellend, vielen Dank.»
Orito ist überzeugt, dass die Hausmutter etwas verheimlicht.
«Wirklich, Schwester, es geht mir gut: In den kalten Bergwintern werde ich immer ein wenig langsamer ...»
«Wie lange sind Sie schon auf dem Shiranui, Hausmutter?»
«Das ist jetzt», sie scheint sich über das Gespräch zu freuen, «mein fünftes Jahr im Dienst des Schreins.»
«Schwester Yayoi sagte mir, Sie stammen von einer großen Insel im Lehen Satsuma.»
«O ja, es dauert einen ganzen Tag, mit dem Boot vom Hafen in Kagoshima dorthin zu gelangen. Sie heißt Yakushima, und niemand hat je von ihr gehört. Ein paar Männer dienen dem Fürsten von Satsuma als Fußsoldaten - sie kehren mit Geschichten zurück, die sie tagein, tagaus immer weiter ausschmücken, aber ansonsten verlässt kaum ein Bewohner die Insel. Das Innere ist unwegsam und gebirgig. Nur achtsame Waldarbeiter, dumme Jäger und eigensinnige Pilger wagen sich dorthin. Die Kami der Insel sind nicht an Menschen gewöhnt. Es gibt nur einen nennenswerten Schrein, auf halber Strecke zum Gipfel des Miura, zwei Tageswanderungen vom Hafen entfernt. Darin befindet sich ein kleines Kloster, kleiner als der Shiranui-Schrein.»
Minori geht am Wäscheraum vorbei. Sie bläst sich in die kalten Hände.
«Wie kam es», fragt Orito, «dass Sie die Stellung als Hausmutter erhalten haben?»
Yūgiri kommt aus der anderen Richtung mit einem Eimer und geht vorbei.
Die Hausmutter entfaltet ein Laken und legt es neu zusammen. «Meister Byakko besuchte Yakushima auf einer Pilgerreise. Mein Vater, der fünfte Sohn einer niederen Familie aus dem Miyake-Clan, war nur dem Namen nach ein Samurai - er handelte mit Reis und Hirse und besaß ein Fischerboot. Da er das Miura-Kloster mit Reis belieferte, bot er Meister Byakko an, ihn auf den Berg zu führen. Ich begleitete sie, um das Gepäck zu tragen und zu kochen: Wir Mädchen auf Yakushima sind kräftig gebaut.» Die Hausmutter wagt ein seltenes, schüchternes Lächeln. «Auf dem Rückweg erzählte Meister Byakko meinem Vater, dass das kleine Nonnenkloster, das an den Shiranui-Schrein angeschlossen sei, eine Haushälterin benötige, die sich nicht vor schwerer Arbeit scheue. Mein Vater packte die Gelegenheit beim Schopf: Ich war eine von vier Töchtern, und mit dem Angebot des Meisters konnte er sich eine Mitgift sparen.»
«Was empfanden Sie bei dem Gedanken, hinter dem Horizont zu verschwinden?»
«Ich fürchtete mich, aber ich freute mich auch darauf, das Festland mit eigenen Augen zu sehen. Zwei Tage später war ich auf dem Boot und sah zu, wie mein Zuhause immer kleiner wurde, bis es schließlich so winzig war, dass es in einem Fingerhut Platz gehabt hätte ... und dann gab es kein Zurück mehr.»
Sawarabis spitzes Lachen dringt von der Küche herüber.
Hausmutter Satsuki blickt zurück in die Vergangenheit: Ihr Atmen wird schwer.
Du bist kränker , denkt Orito, als du zugeben willst ...
«Ach, was bin ich für ein schwatzhaftes Weib. Danke für Ihre Hilfe, Schwester, aber Sie dürfen sich nicht weiter von Ihren Pflichten abhalten lassen. Ich kann die Gewänder auch allein Zusammenlegen.»
Orito geht zurück in den Wandelgang und nimmt den Besen.
Die Novizen klopfen ans Tor, damit man sie hinauslässt.
Als das Tor aufgeht, saust die mondgraue Katze zwischen ihren Beinen hindurch. Sie huscht durch den Innenhof; ein Eichhörnchen flüchtet auf die alte Pinie. Die Katze läuft direkt zu Orito, schmiegt sich an ihre Beine und sieht sie bedeutungsvoll an.
«Wenn du mehr Fisch haben willst, du Gauner, hast du Pech gehabt.»
Die Katze nennt Orito ein armes, dummes Ding.
«Im Lehen Bizen ...», der Nachtwind weht durch den Schrein, und Hatsune, die Erste Schwester, streicht sich über das für immer geschlossene Augenlid, «... führt eine Schlucht von der San’yōdo-Straße hinauf zur Burgstadt Bitchu. An einer schmalen Biegung wurden zwei Hausierer aus Osaka mit wundgelaufenen Füßen von der Dunkelheit eingeholt, und so
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