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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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entschuldige!» Seine Mutter tritt in die Bibliothek. «Ich hatte ja keine Ahnung, dass du Besuch hast. Bleibt dein ...», sie hält inne, «... dein Gast zum Abendessen?»
    Otane macht eine sehr tiefe Verbeugung. «Eine solche Großzügigkeit ist weit mehr, als ein altes Mütterchen verdient. Vielen Dank, aber ich darf mich Ihrem mildtätigen Haus nicht länger aufdrängen ...»

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    XIX

    Das Haus der Schwestern, Shiranui-Schrein

    Sonnenaufgang am neunten Tag des zwölften Monats
     
    Das Fegen der Wandelgänge ist eine lästige Angelegenheit an diesem Nachmittag: Kaum sind die Blätter und Piniennadeln zusammengekehrt, bläst der Wind den Haufen davon. Wolken ziehen über dem Kahlen Gipfel auf und verschütten eisigen Nieselregen. Orito wäscht mit Sackleinen den Vogelleim von den Brettern. Heute ist der fünfundneunzigste Tag ihrer Gefangenschaft: Seit dreizehn Tagen täuscht sie Suzaku und die Äbtissin und kippt das Trost in ihren Ärmel. In den ersten vier, fünf Tagen litt sie unter Krämpfen und Fieber, aber jetzt sind ihre Sinne wieder klar: Die Ratten sind verstummt, und das Haus spielt ihr keine Streiche mehr. Trotz allem bleibt es ein schaler Sieg: Man hat ihr nicht erlaubt, den Schrein außerhalb des Klosters zu erkunden, und obwohl sie zum dritten Mal einer Gabenspende entronnen ist, ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie noch einmal so viel Glück hat, und dass eine Jüngste Schwester gar ein fünftes Mal verschont bleibt, wäre ein bislang einmaliges Ereignis.
    Umegae kommt in Lacksandalen auf sie zu: klack-klack, klack-klack.
    Sie wird der Versuchung nicht widerstehen können , ahnt Orito, eine dumme Bemerkung zu machen .
    «So emsig, Jüngste Schwester! Bist du mit einem Besen in der Hand geboren?»
    Umegae rechnet nicht mit einer Antwort und erhält auch keine, und sie geht weiter in die Küche. Ihre Sticheleien wecken in Orito Erinnerungen an ihren Vater, der oft davon sprach, wie sauber es auf Dejima sei - im Unterschied zur Faktorei der Chinesen, wo sich Ratten zwischen fauligen Abfällen tummelten. Sie fragt sich, ob Marinus sie wohl vermisst. Sie fragt sich auch, ob ein Mädchen aus dem Haus der Glyzinien jetzt Jacob de Zoets Bett wärmt und seine exotischen Augen anhimmelt. Denkt der Niederländer überhaupt noch an sie, wenn er nicht gerade das Wörterbuch vermisst, das er ihr geschenkt hat?
    Dieselbe Frage stellt sie sich in Bezug auf Ogawa Uzaemon.
    De Zoet wird Japan verlassen, ohne je zu erfahren, dass sie sein Angebot annehmen wollte.
    Selbstmitleid , ermahnt sich Orito, ist eine Schlinge, die am Dachbalken baumelt.
    Der Pförtner ruft: «Tor wird geöffnet, Schwestern!»
    Zwei Novizen schieben einen Karren mit Holzscheiten und Kienspänen herein.
    Kurz bevor das Tor zugeht, huscht eine Katze hindurch. Sie ist hellgrau wie der Mond an trüben Abenden und läuft durch den Innenhof. Ein Eichhörnchen flüchtet auf die alte Pinie, aber die mondgraue Katze weiß, dass Zweibeiner bessere Beute zu bieten haben. Sie springt in den Wandelgang und versucht ihr Glück bei Orito. «Ich habe dich noch nie hier gesehen», sagt sie zu dem Tier.
    Die Katze sieht sie an und miaut: Füttere mich, denn ich bin schön.
    Orito hält ihr vorsichtig eine getrocknete Sardine hin.
    Die mondgraue Katze mustert den Fisch ungerührt.
    «Irgendwer», schimpft Orito, «hat diesen Fisch den weiten Weg hierherauf getragen.»
    Die Katze nimmt den Fisch, springt zurück in den Innenhof und verschwindet unter dem Laufgang.
    Orito kniet sich hin, aber die Katze ist nirgends zu sehen.
    Sie entdeckt eine kleine rechteckige Öffnung im Fundament ...
    ... und eine Stimme auf dem Gehweg fragt: «Hat die Jüngste Schwester etwas verloren?»
    Orito blickt schuldbewusst auf. Vor ihr steht die Hausmutter, beladen mit einem Stapel Gewänder. «Eine Katze hat um Futter gebettelt, und als sie es bekommen hatte, hat sie sich davongestohlen.»
    «War bestimmt ein Kater.» Die Hausmutter niest so heftig, dass sie die Wäsche fallen lässt.
    Orito hilft ihr, die Sachen aufzusammeln und in den Wäscheraum zu tragen. Die Hausmutter tut der Jüngsten Schwester immer ein wenig leid. Die Stellung der Äbtissin ist klar -unter den Meistern, über den Novizen -, aber Hausmutter Satsuki hat eindeutig mehr Pflichten als Privilegien. In den Augen der Unteren Welt führt sie ein beneidenswertes Leben, denn sie ist weder entstellt, noch muss sie Gaben empfangen, aber im Haus der Schwestern herrscht eine eigene Gesetzmäßigkeit, und Umegae

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