Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Stiefmutter in Nagasaki hat einen Sohn. Ich will seinen Namen nicht nennen. Bei Vaters Hochzeitsverhandlungen wurde beschlossen, ihn zum Arzt und Gelehrten auszubilden, doch schon nach kurzer Zeit offenbarte sich seine mangelnde Begabung. Er verabscheute Bücher, hasste die niederländische Sprache und ekelte sich vor Blut. Man schickte ihn zu einem Onkel nach Saga, aber er kehrte zu Vaters Beerdigung nach Nagasaki zurück. Aus dem verstockten Jungen war ein siebzehn Jahre alter Mann von Welt geworden. ‹He, baden›, hieß es jetzt und: ‹Ich will Tee!› Er sah mich an, wie Männer eine Frau ansehen, ohne dass ich ihn ermutigte.»
Auf dem Korridor sind Schritte zu hören. Orito hält inne, bis sie verklungen sind.
«Meine Stiefmutter bemerkte die Veränderung in ihrem Sohn, aber sie schwieg. Bis zum Tode meines Vaters spielte sie die pflichtbewusste Arztfrau, aber nach der Beerdigung veränderte sie sich ... oder zeigte ihr wahres Ich. Sie verbot mir, ohne ihre Erlaubnis das Haus zu verlassen, eine Erlaubnis, die ich nur selten erhielt. Sie sagte: ‹Die Zeiten, in denen du dich bei Gelehrten rumtreibst, sind vorbei.› Vaters alte Freunde wurden an der Tür abgewiesen, bis sie ihre Besuche schließlich einstellten. Sie entließ Ayame, unsere letzte Dienerin aus Mutters Zeiten. Ich musste ihre Pflichten übernehmen. Eben noch hatte ich weißen Reis gegessen, plötzlich war er braun. Das klingt sicher schrecklich verwöhnt.»
Yayoi stöhnt leise hei einem Tritt in ihrem Uterus. «Sie hören zu, und keiner von uns hält dich für verwöhnt.»
«Mein Stiefbruder zeigte mir, dass das wahre Leid noch vor mir lag. Ich schlief in Ayames alter Kammer - zwei Matten groß, also kaum größer als ein Schrank und eines Abends, ein paar Tage nach Vaters Beerdigung, als alle im Haus schon schliefen, kam er in mein Zimmer. Ich fragte ihn, was er wolle. Das wisse ich ganz genau, antwortete er. Ich forderte ihn auf, das Zimmer zu verlassen. Er sagte: ‹Die Regeln haben sich geändert, liebe Stiefschwester.› Als Oberhaupt der Aibagawas von Nagasaki ...», Orito hat einen metallischen Geschmack im Mund, «... verfüge er über den gesamten Besitz des Hauses. ‹Über diesen hier auch›, sagte er, und dann fasste er mich an.»
Yayoi verzieht das Gesicht. «Ich hätte nicht fragen dürfen. Du musst es nicht erzählen.»
Er ist der Übeltäter , denkt Orito, nicht ich. «Ich wollte ... aber er schlug mich so heftig, wie mich noch nie jemand geschlagen hatte. Er drückte mir die Hand auf den Mund und flüsterte ...» Ich sollte mir vorstellen , erinnert sie sich, er sei Ogawa. «Wenn ich mich wehrte, drohte er, würde er meine rechte Gesichtshälfte übers Feuer halten, bis sie aussähe wie die linke, und außerdem würde er ohnehin mit mir machen, was er wolle.» Orito muss ihre Stimme festigen. «Angst vorzutäuschen, war leicht. Viel schwieriger war, die Gehorsame zu spielen. Also sagte ich: ‹Ja.› Er leckte mein Gesicht ab wie ein Hund, löste seine Kleidung, und ... dann griff ich ihm zwischen die Beine und drückte so fest zu, als würde ich eine Zitrone auspressen.»
Yayoi sieht ihre Freundin überrascht an.
«Sein Schrei weckte das ganze Haus. Seine Mutter stürzte ins Zimmer und schickte die Diener fort. Ich erzählte ihr, was ihr Sohn versucht hätte. Er hingegen behauptete, ich hätte ihn in mein Bett gelockt. Sie schlug auf das Oberhaupt der Aibagawas aus Nagasaki ein, einmal, weil er ein Lügner war, noch einmal, weil er ein Dummkopf war, und noch zehnmal, weil er fast den verkäuflichsten Besitz der Familie entwertet hätte. ‹Abt Enomoto›, sagte sie, ‹will, dass deine Stiefschwester unberührt ist, wenn sie in sein Kloster der Missgestalten kommt.› Auf diese Weise erfuhr ich, warum Enomotos Vogt dem Haus einen Besuch abgestattet hatte. Vier Tage später war ich hier.»
Der Sturm drischt auf das Dach ein, und das Feuer grollt.
Orito erinnert sich, wie sämtliche Freunde ihres Vaters sich geweigert hatten, ihr an dem Abend, an dem sie von zu Hause weggelaufen war, Schutz zu gewähren.
Sie erinnert sich, wie sie sich die ganze Nacht horchend im Haus der Glyzinien versteckt hatte.
Sie erinnert sich an die schmerzliche Entscheidung, den Antrag de Zoets anzunehmen.
Und sie erinnert sich an die Schmach, als man sie an der Landpforte von Dejima festnahm.
«Die Mönche sind anders als dein Stiefbruder», sagt Yayoi. «Sie sind sanftmütig.»
«So sanftmütig, dass sie aufhören und die Zelle
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