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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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fassen, dass sie das Haus verlassen hat. Der lange Graben zwischen dem erhöhten Fundament des Klosters und den Schreinmauern ist fünf Schritte breit, aber die Mauer ist so hoch wie drei Männer: Um auf den Wall gelangen zu können, müsste sie eine Treppe oder eine Leiter finden. Links, Richtung Nordwinkel, steht ein im chinesischen Stil erbautes Mondtor: Es führt in einen dreieckigen Innenhof und zu Meister Genmus erlesener Privatunterkunft, weiß Orito von Yayoi. Sie eilt in die entgegengesetzte Richtung zum Ostwinkel. Hinter dem Haus der Schwestern gelangt sie in einen kleinen eingezäunten Bereich, in dem sich der Hühnerstall, der Taubenschlag und die Ziegenställe befinden. Die Vögel werden unruhig, als sie vorbeigeht, aber die Ziegen schlafen weiter.
    Vom Ostwinkel führt ein überdachter Laufgang in die Halle der Meister - neben einem kleinen Speicher lehnt eine Bambusleiter an der Außenmauer. Mit dem Gedanken, dass ihr vielleicht in wenigen Augenblicken die Flucht gelingt, steigt Orito hinauf auf den Mauerwall. Als sie auf einer Höhe mit den Dachvorsprüngen ist, sieht sie die alte Säule des Amanohashira, die sich im Heiligen Innenhof erhebt. Ihre Spitze spießt den Mond auf. So viel atemberaubende Schönheit , denkt Orito. So viel stumme Grausamkeit.
    Sie zieht die Bambusleiter hoch und lässt sie an der Außenseite wieder hinunter ...
    Nur zwanzig Schritte hinter dem Schrein beginnt der dichte Pinienwald.
    ... aber die Leiter reicht nicht bis ganz nach unten.
    Es ist zu finster, um den Abstand zum Boden einschätzen zu können.
    Wenn ich springe und mir das Bein breche , denkt sie, bin ich bei Sonnenaufgang erfroren.
    Die Leiter rutscht ihr aus den tauben Fingern, fällt hinab und zerbricht.
    Ich brauche ein Seil , folgert sie, oder etwas, woraus sich eines machen lässt ...
    Ungeschützt wie eine Ratte auf dem Fenstersims, eilt Orito auf das Große Tor im Südwinkel zu, in der Hoffnung, dass ein eingeschlafener Wachposten ihr die Flucht in die Freiheit ermöglicht. Bei der nächsten Leiter klettert sie hinunter - in den Graben zwischen Außenmauer und der riesigen Küche mit Speiseraum. Es riecht nach Ruß und Latrine. Durch die Küchentür sickert bernsteingelbes Licht. Ein schlafloser Koch wetzt seine Messer. Damit er sie nicht hört, passt sie ihre Schritte seinem Schleifrhythmus an. Das nächste Mondtor führt sie in den südlichen Innenhof bei der großen Meditationshalle. Darin stehen zwei riesenhafte Statuen aus Sicheltannenholz: Fūjin, der Windgott, gebeugt unter der Last seines Windsacks, und Raijin, der Donnergott mit seiner großen Trommel, der bei Gewitter Kindern die Bauchnabel stiehlt. Das Große Tor besteht wie die Landpforte auf Dejima aus einer hohen Doppeltür für Sänften und einer kleinen Tür, die ins Pförtnerhaus führt. Die kleine Tür steht einen Spalt offen ...
     
    ... Orito drückt sich eng an die Mauer und schleicht weiter, bis sie Tabakrauch riecht und Stimmen hört. Sie kauert sich hinter einen großen Bottich. «Ist noch Holzkohle da?», fragt ein Mann mit breitem Dialekt. «Meine Eier sind schon Eisklumpen.»
    Eine Kohlenschütte wird ausgekippt. «Das war der Rest», sagt eine hohe Stimme.
    «Lasst uns losen», sagt der Mann mit dem Dialekt, «wer die Ehre hat, Nachschub zu holen.»
    «Und», fragt eine dritte Stimme, «wie stehen die Aussichten, dass deine Eier bei der nächsten Gabenspende aufgetaut sind?»
    «Nicht besonders», gibt der erste Mann zu. «Ich hatte vor drei Monaten Sawarabi.»
    «Ich hatte letzten Monat Kagerō», sagt die dritte Stimme. «Jetzt muss ich mich wieder hinten anstellen.»
    «Es ist so gut wie sicher, dass die Jüngste Schwester beim nächsten Mal erwählt wird», sagt die zweite Stimme, «und das heißt, wir Novizen gehen leer aus. Genmu und Suzaku sind immer die Ersten, die ihren Spaten in jungfräulicher Erde versenken.»
    «Nicht, wenn der Fürstabt seine Aufwartung macht», sagt der Mann mit dem Dialekt. «Meister Annei hat Meister Nogoro erzählt, dass Enomoto-dono mit ihrem Vater befreundet war und für seine Darlehen gebürgt hat. Als der Alte dann über den Sanzu ging, stand die Witwe vor der Wahl: Entweder sie überlässt die Stieftochter dem Schrein, oder sie verliert Haus und Besitz.»
    So hat Orito die Sache noch nie betrachtet, aber jetzt erscheint es ihr auf ekelhafte Weise einleuchtend.
    Die dritte Stimme gluckst anerkennend. «Ein Meister der Taktik, unser Fürstabt ...»
    Orito wünscht, sie könnte die Männer und

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