Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
Zeitpunkt, mein Anliegen vorzubringen ...
    Der nachdenkliche Gastgeber und sein zögernder Gast schenken einander ein.
    «Auf das Glück der Ogawas aus Nagasaki», sagt Shuzai, «und darauf, dass dein ehrenwerter Vater rasch genesen möge.»
    «Auf ein erfolgreiches Jahr für Meister Shuzais Dōjō.»
    Die Männer leeren den ersten Becher Sake, und Shuzai seufzt zufrieden. «Mit dem Erfolg ist es vorbei, fürchte ich. Mag sein, dass ich mich irre, aber ich bezweifle es. Die alten Werte verfallen, das ist das Problem. Der Geruch der Dekadenz hängt überall wie Rauch. Ja, die Samurai lieben die Vorstellung, in den Kampf zu ziehen wie ihre tapferen Ahnen, aber wenn die Speicher leer sind, verabschieden sie sich lieber von der Schwertkampfkunst als von ihren Konkubinen oder gefütterten Kimonos. Jene, die weiter die alten Sitten pflegen, kommen mit den neuen nicht zurecht. Letzte Woche hat schon wieder ein Schüler mit Tränen in den Augen gekündigt: Sein Vater, ein Beamter in der Waffenkammer, bekommt seit zwei Jahren nur noch die Hälfte seines Gehalts - und nun muss er erfahren, dass sein Rang ihn im neuen Jahr zu keiner weiteren Auszahlung berechtigt. Und das am Ende des zwölften Monats, wenn die Geldverleiher und Gerichtsvollzieher umherziehen und anständige Leute belästigen! Hast du gehört, was Edo seinen unbezahlten Beamten neuerdings rät? ‹Finanziert euer üppiges Leben, indem ihr Goldfische züchtet.› Goldfische! Wer außer Kaufleuten hat schon Geld für Goldfische übrig? Wenn die Söhne der Kaufleute Schwerter tragen dürften», Shuzai senkt die Stimme, «hätte ich so viele Schüler, dass die Schlange bis zum Fischmarkt reichte, aber man ist besser beraten, Silbermünzen in Pferdemist zu pflanzen, als darauf zu warten, dass Edo diesen Erlass ausgibt.» Er schenkt sich und Uzaemon Sake nach. «Ach, genug der Klage: Du warst bei der Übungsstunde mit den Gedanken nicht bei der Sache.»
    Shuzais Scharfblick kann Uzaemon nicht mehr überraschen. «Ich weiß nicht, ob ich das Recht habe, dich damit zu behelligen.»
    Feuchte Zweige knacken auf dem schwachen Feuer, als ginge jemand darüber.
    «Vor einigen Tagen gelangte ich in den Besitz einer Schriftrolle ...»
    Ein lackschwarzer Kakerlak krabbelt an der Wand entlang.
    «... mit äußerst beunruhigenden Nachrichten. Sie betreffen den Orden des Shiranui-Schreins.»
    Shuzai, der von Uzaemons innigem Verhältnis zu Orito weiß, mustert seinen Freund.
    «Darauf sind die geheimen Regeln des Ordens verzeichnet. Es ist ... entsetzlich.»
    «Der Shiranui steckt voller Geheimnisse. Bist du dir sicher, dass die Rolle echt ist?»
    Uzaemon zieht die Hartriegelschatulle aus dem Ärmel. «Ja. Ich wünschte, es wäre eine Fälschung, aber sie wurde von einem Novizen des Ordens geschrieben, der sein Gewissen nicht länger begraben konnte. Er floh, und wenn man seine Aufzeichnungen liest, begreift man ...»
    Der Regen trappelt mit Pferdehufen über die Dächer und Straßen. «... Wenn du sie aber liest, Shuzai, dann steckst du in der Sache drin. Das könnte gefährlich werden.»
    Shuzai streckt die Hand nach der Schriftrolle aus.
    «Aber das ...», flüstert Shuzai entsetzt, «... das ist Wahnsinn: Zu glauben, man könnte durch dieses ...», er zeigt auf die Schriftrolle auf dem Tischchen, «... mörderische Treiben Unsterblichkeit erlangen. Die Formulierungen sind konfus, aber hier ... im Dritten und Vierten Gebot: Wenn die ‹Gabenspender› die Mönche des Ordens sind und die Frauen die Trägerinnen und ihre Neugeborenen die Gaben, dann ist der Shiranui-Schrein kein - kein Harem, sondern ...»
    «Eine Zuchtfarm.» Uzaemon schnürt es die Kehle zusammen. «Die Schwestern sind das Vieh.»
    «Das Sechste Gebot über das ‹Auslöschen der Gaben im Kelch der Hände› ...»
    «Wahrscheinlich ertränken sie die Neugeborenen wie unerwünschte Welpen.»
    «Aber die Männer, die das Töten übernehmen ... müssen die Väter sein.»
    «Das Siebte Gebot schreibt vor, dass fünf ‹Gabenspender› in fünf aufeinanderfolgenden Nächten derselben ‹Trägerin› beiwohnen, damit niemand die Gewissheit hat, dass er sein eigenes Kind tötet.»
    «Das - das ist wider die Natur. Die Frauen ... wie können sie ...» Shuzai verstummt.
    Uzaemon zwingt sich, seine schlimmsten Befürchtungen auszusprechen. «Die Frauen werden geschändet, wenn sie am fruchtbarsten sind, und nach der Geburt nimmt man ihnen die Kinder weg. Ob die Frauen einwilligen, dürfte nicht von Belang sein. Die

Weitere Kostenlose Bücher