Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Küche, die durch eine Schiebewand vom Wandelgang abgetrennt ist. Sie zieht sich Schuhe aus Stroh und Segeltuch an und tritt nach draußen.
Die eisige Luft dringt durch die wattierte Jacke und die dicke Wanderhose.
Der Dreiviertelmond ist fleckig. Die Sterne sind Blasen, eingeschlossen im Eis. Die knorrige alte Pinie ist unheilvoll. Orito geht zu der Stelle, die ihr die Katze vor einigen Wochen gezeigt hat. Sie hält Ausschau in der Dunkelheit, kniet sich hin auf die frostbedeckten Steine und duckt sich unter den Laufgang, einen Warnschrei erwartend ...
... aber es bleibt still. Sie kriecht weiter, bis sie die rechteckige Öffnung ertastet. Vor neun Tagen war sie schon einmal bis zu dieser Stelle gekommen, aber Schwester Asagao und Schwester Sawarabi hatten sie gesehen, und sie musste sich rasch etwas über eine fallengelassene Nähnadel aus den Fingern saugen. Danach hatte sie es nicht mehr gewagt, den Tunnel zu erkunden. Falls es sich überhaupt um einen Tunnel handelt , denkt sie, und nicht nur um ein paar fehlende Steine im Fundament. Sie zwängt sich mit dem Kopf voran durch das schwarze Rechteck und robbt vorwärts.
Der Gang ist kniehoch und eine Ellenlänge breit. Orito muss sich winden wie ein Aal, nicht so grazil, aber ebenso lautlos. Bald sind ihre Knie aufgeschürft, die Schienbeine haben blaue Flecken, und die Fingerspitzen brennen, wenn sie Halt an den gefrorenen Steinen suchen. Der Boden fühlt sich glatt an, als hätte fließendes Wasser ihn ausgewaschen. Es herrscht fast völlige Finsternis. Als ihre tastenden Hände an einen Steinblock stoßen, meint sie in einer Sackgasse zu sein und verliert den Mut ... doch dann macht der Tunnel eine Biegung nach links. Sie windet sich um die spitze Kurve und schiebt sich weiter. Ihre Lunge schmerzt, und sie zittert am ganzen Körper. Sie versucht, nicht an riesige Ratten zu denken oder daran, lebendig begraben zu werden. Jetzt müsste ich unter Umegaes Zelle sein , denkt sie und stellt sich vor, wie sich die Schwester, zwei Lagen Holzdielen, eine Tatami und einen Futon über ihr, eng an Hashihime schmiegt.
Täusche ich mich , denkt sie, oder wird es da vom ein wenig heller?
Die Hoffnung treibt sie voran. Als sie eine weitere Biegung bewältigt hat, sieht sie ein kleines Dreieck aus mondbeschienenem Stein.
Ein Loch in der Klostermauer , erkennt sie. Bitte gib, dass es groß genug ist.
Doch nach einer weiteren Minute mühsamen Vorankämpfens muss sie erkennen, dass das Loch kaum größer ist als eine Faust: die richtige Größe für eine Katze. Wahrscheinlich hat sich im Lauf der Zeit durch Eis und Sonnenlicht ein einzelner Stein gelöst. Wäre das Loch größer , denkt sie, hätte man es ja längst von außen bemerkt. Sie stützt sich mit den Füßen an den Wänden ab, legt die Hände auf den Stein neben der Öffnung und stemmt sich mit aller Kraft dagegen, bis ein schmerzhaftes Knacken im Genick sie zwingt aufzuhören.
Manche Dinge lassen sich bewegen , denkt sie, aber dieser Stein niemals.
«Das war’s», murmelt sie. Ihr Atem ist weiß. «Es gibt kein Entkommen.»
Orito denkt an die nächsten zwanzig Jahre, an die Männer, die gestohlenen Kinder.
Sie kriecht zurück zur zweiten Biegung, dreht sich mühsam um die eigene Achse, schiebt sich mit den Füßen voran zur Klostermauer und macht sich ganz klein: Sie setzt die Füße auf den Stein und drückt ...
Ebenso gut könnte ich versuchen , Orito ringt nach Atem, den Kahlen Gipfel zu versetzen.
Dann stellt sie sich vor, wie Äbtissin Izu ihr den Empfang der Gabe ankündigt.
Sie zieht die Beine an und tritt dann mit aller Wucht gegen den Stein.
Sie malt sich die Glückwünsche der Schwestern aus: freudig, hämisch, aufrichtig.
Ihre Schienbeine sind wund, aber sie hört nicht auf zu treten, wieder und wieder ...
Sie stellt sich vor, wie Meister Genmu sie begrabscht und gierig über sie herfällt.
Was war das für ein Geräusch? Orito hält inne. Woher kommt dieses Knirschen?
Sie stellt sich vor, wie Suzaku ihr erstes Kind holt, ihr drittes, ihr neuntes ...
Sie tritt weiter gegen den Stein, bis ihre Beine schmerzen und die Halsschlagader pocht.
Sand rieselt auf ihre Fesseln - und auf einmal lösen sich gleich zwei Steine, und ihre Füße schauen ins Freie.
Sie hört, wie die Steine einen kleinen Hang hinunterpoltern und mit einem dumpfen Ton liegen bleiben.
Der Schnee ist harschig und knirscht unter ihren Füßen. Verschaffe dir einen Überblick, schnell. Orito kann es noch gar nicht
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