Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Hölle ist die Hölle, weil dort das Böse unbemerkt geschieht.»
«Glaubst du nicht, dass manche es vorziehen, sich das Leben zu nehmen?»
«Vielleicht geschieht das auch. Aber sieh dir das Achte Gebot an: ‹Briefe von den Ausgelöschten›. Einer Mutter, die glaubt, dass ihre Kinder ein gutes Leben bei Stiefeltern führen, fällt es vermutlich leichter, ihr Schicksal zu ertragen - besonders wenn sie die Hoffnung hegt, dass es nach dem ‹Abstieg› ein Wiedersehen gibt. Dass es dazu gar nicht kommen kann, bleibt dem Haus der Schwestern offensichtlich verborgen.»
Shuzai blickt, ohne zu antworten, auf die Rolle. «Aus manchen Sätzen werde ich nicht schlau ... zum Beispiel dieser hier, ganz am Ende: ‹Das letzte Wort des Shiranui heißt Schweigen.› Dein entflohener Mönch muss seine Aussage in normales Japanisch übersetzen.»
«Er wurde vergiftet. Wie gesagt, es ist gefährlich, die Gebote zu lesen.»
Uzaemons Diener und Shuzais Schüler unterhalten sich, während sie die Übungshalle fegen.
«Aber Fürstabt Enomoto», sagt Shuzai ungläubig, «ist doch bekannt als ...»
«Als angesehener Richter, ja, und als menschenfreundlicher Fürst. Als Mitglied der Shirandō-Akademie, als Vertrauter der Mächtigen und Händler für seltene Arzneien. Aber er scheint ebenso Anhänger eines obskuren Shintō-Kultes zu sein, der durch blutige Rituale Unsterblichkeit erlangen will.»
«Wie konnten diese Gräueltaten über so viele Jahrzehnte geheim gehalten werden?»
«Abschottung, Erfindungsgabe, Macht ... Angst ... Damit lässt sich fast alles erreichen.»
Vor dem Haus zieht eine Schar betrunkener Feiernder vorbei.
Uzaemon blickt hinüber zu dem Alkoven, in dem Shuzai seinen Meister ehrt. Auf einem stockfleckigen Behang steht: «Der Falke mag hungrig sein, aber er rührt kein Maiskorn an.»
«Der Verfasser dieser Schriftrolle», fragt Shuzai leise, «bist du ihm persönlich begegnet?»
«Nein. Er gab sie einer alten Kräuterheilerin, die in der Nähe von Kurozane lebt. Aibagawa-san hat sie einige Male besucht, daher kannte sie meinen Namen. Sie suchte mich auf, weil sie hoffte, dass ich über den Willen und die Möglichkeiten verfüge, der Jüngsten Schwester des Schreins zu helfen ...»
Die beiden Männer lauschen dem Trommeln der Wassertropfen.
«Den Willen habe ich, aber die Möglichkeiten stehen auf einem anderen Blatt. Wenn ein Niederländischübersetzer aus dem dritten Rang gegen den Fürst von Kyōga zu Felde zöge, bewaffnet nur mit einer Schriftrolle zweifelhafter Herkunft ...»
«... ließe Enomoto dich enthaupten, weil du sein Ansehen beschmutzt hättest.»
Jetzt , denkt Uzaemon, heißt es Entweder-oder. «Shuzai, wenn ich meinem Vater die Erlaubnis abgerungen hätte, Fräulein Aibagawa zu heiraten, so wie ich es ihr einst versprochen habe, wäre sie jetzt nicht ...», er schlägt auf das Pergament, «... auf dieser Farm eingesperrt. Begreifst du, weshalb ich sie befreien muss?»
«Ich begreife, dass man dich zerlegen wird wie einen Thunfisch, wenn du alleine handelst. Gib mir ein paar Tage Zeit. Ich muss vielleicht eine kleine Reise machen.»
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XXI
Oritos Zelle im Haus der Schwestern
Die achte Nacht des ersten Monats im zwölften Jahr der Kansei-Zeit
Orito denkt darüber nach, dass sie in den nächsten Stunden sehr viel Glück benötigt: Der Katzentunnel muss breit genug für eine schlanke Frau und an seinem Ende offen sein; Yayoi darf in der Nacht nicht aufstehen, um nach ihr zu sehen; sie muss unverletzt die vereiste Schlucht hinabsteigen und auf halber Strecke das Tor passieren, ohne dass die Wachen sie bemerken; im Morgengrauen muss sie Otanes Hütte finden und darauf hoffen, dass die Freundin ihr Zuflucht gewährt. Und das , denkt Orito, ist erst der Anfang. Wenn sie nach Nagasaki zurückkehrt, würde man sie sofort gefangen nehmen, wenn sie aber nach Kumamoto, Kagoshima oder in die relativ sicherere Provinz Chikugo flieht, wäre sie dort eine Fremde ohne Freunde, Obdach und ohne einen Mon in der Tasche.
Nächste Woche ist Gabentag , denkt Orito. Nächste Woche bist du dran.
Leise schiebt sie die Tür Zentimeter für Zentimeter auf.
Mein erster Schritt in die Freiheit , denkt sie, als sie an Yayois Zelle vorbeigeht.
Ihre hochschwangere Freundin schnarcht. Orito flüstert: «Es tut mir leid.»
Yayoi wird sich durch Oritos Flucht schrecklich verlassen fühlen.
Es ist die Göttin , ermahnt sich die Hebamme, die dich dazu zwingt.
Orito schleicht über den Korridor in die
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