Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
sehen zu, wie Orito auf die Schlussfolgerung reagiert. Aus dem Kessel steigt Dampf auf. Die dicke Ratte wartet. «Nein», sagt Orito. «Nein!» Es gibt keinen Grund, die Kinder zu töten. Wären die Gaben unerwünscht, würde Meister Suzaku den Schwangeren Kräuter verabreichen, damit sie eine Fehlgeburt erleiden. Die dicke Ratte fordert sie spöttisch auf, den Brief zu erklären, der auf dem Tisch liegt. Orito greift nach der ersten einleuchtenden Antwort. Schwester Hatsunes Tochter ist an einer Krankheit oder durch einen Unfall gestorben. Um der Schwester den Schmerz des Verlustes zu ersparen, hat der Orden beschlossen, die Neujahrsbriefe selbst zu schreiben.
Die dicke Ratte zuckt, dreht sich um und verschwindet.
Die Tür, durch die sie gekommen ist, geht auf. Ein Mann sagt: «Nach Euch, Meister ...»
Orito eilt zu der anderen Tür: Wie im Traum ist sie nah und fern zugleich.
«Eigenartig», ertönt Meister Chimeis Stimme, «dass man nachts am besten schreibt ...»
Orito schiebt die Tür einen halben Meter weit auf.
«... aber ich freue mich, dass du mir zu dieser unwirtlichen Stunde Gesellschaft leistest, lieber Junge.»
Als der Meister ins Licht tritt, schlüpft sie schnell hinaus und schiebt die Tür hinter sich zu. Der kurze Flur, der zu Meister Genmus Wohnung führt, ist dunkel und kalt. «Eine Geschichte muss bewegen», hört sie Meister Chimei dozieren, «und Unglück treibt die Menschen an. Zufriedenheit macht träge. Deshalb werden wir in der Geschichte von Schwester Hatsunes Fräulein Noriko maßvoll Unheil säen. Die Turteltauben müssen leiden. Entweder durch äußere Einflüsse wie Diebstahl, Feuer oder Krankheit, oder besser noch, von innen heraus, durch charakterliche Schwäche. Der junge Shingo könnte der Hingabe seiner Frau überdrüssig werden, oder Noriko wird so eifersüchtig auf das neue Dienstmädchen, dass Shingo sie schließlich tatsächlich bespringt. Man muss die nötigen Kniffe beherrschen, verstehst du? Geschichtenerzähler sind keine Priester, die Zwiesprache mit himmlischen Sphären halten, sondern Handwerker, geschickt wie ein Teigtaschenmacher, nur langsamer. Also an die Arbeit, lieber Junge, bis die Lampe verlischt ...»
Orito gleitet geräuschlos an der Wand entlang über den Flur. Sie kommt zu einer holzgetäfelten Tür, hält den Atem an und horcht. Stille. Sie öffnet sie einen winzigen Spalt ...
Der Raum ist dunkel und leer: Schwarze Rechtecke in den Wänden deuten auf Türen hin.
In der Mitte erhebt sich etwas, das aussieht wie ein Haufen altes Sackleinen.
Sie tritt ein und geht darauf zu - vielleicht lässt sich daraus ein Seil knoten.
Sie greift in den Stoffhaufen und bekommt den warmen Fuß eines Mannes zu fassen.
Ihr bleibt fast das Herz stehen. Der Fuß befreit sich. Ein Körper dreht sich um. Die Decken bewegen sich.
Meister Genmu murmelt: «Bleib, Maboroshi, oder ich ...» Die Drohung bleibt unausgesprochen.
Orito duckt sich. Sie wagt es nicht zu atmen, geschweige denn wegzulaufen ...
Das Deckengebirge, unter dem der Novize Maboroshi liegt, bewegt sich; er fängt an zu schnarchen.
Mehrere Minuten vergehen, bis Orito sich halbwegs sicher ist, dass beide Männer schlafen.
Sie zählt zehn langsame Atemzüge, dann geht sie zu der Tür, die vor ihr liegt.
Das leise Rumpeln beim Aufschieben klingt in ihren Ohren wie ein Erdbeben ...
Die Göttin, geschnitzt aus fein gemasertem, silbrig glänzendem Holz und von einer großen Votivkerze erleuchtet, betrachtet den Eindringling von ihrem Sockel in der Mitte des kleinen, reich verzierten Altarraums aus. Sie lächelt. Begegne ihrem Blick nicht , warnt Orito ein inneres Gefühl, oder sie erkennt dich. An einer Wand sind schwarze Gewänder mit blutroten Seidenbändern aufgehängt; die anderen Wände sind wie in den Häusern wohlhabender Niederländer mit Papier beklebt. Die Matten riechen harzig und neu. Die hintere Wand ist zu beiden Seiten der Tür mit großen Ideogrammen beschrieben. Orito nimmt die Kerze und geht darauf zu. Die dicken Pinselstriche sind klar ausgeführt, aber Orito kann die Zeichen nicht entziffern. Bekannte Teile wurden auf unbekannte Weise zusammengesetzt.
Sie stellt die Kerze zurück und öffnet die Tür, die in den nördlichen Innenhof führen muss.
Die Göttin, deren Farbe stellenweise abgeblättert ist, beobachtet den überraschten Eindringling aus der Mitte des schlichten Altarraums. Orito überlegt, ob der Raum wohl in die Außenmauern des Schreins gehauen wurde. Oder
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