Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
erkennt sie schemenhaft eine kleine Eingangshalle.
Ein zarter Kampfergeruch verrät ihr, dass hinter der Tür rechts die Krankenstation liegen muss.
Links befindet sich ein zurückversetzter Türbogen, aber ihr Flüchtlingsinstinkt sagt nein.
Sie schiebt die rechte Tür auf.
Die Dunkelheit löst sich auf zu Ebenen, Linien und Flächen ...
Sie hört das Rascheln eines strohgefüllten Futons und das Atmen eines Schlafenden.
Sie hört Stimmen und Schritte: zwei Männer oder drei.
Der Patient fragt gähnend: «Is’ da wer?»
Orito schleicht zurück in die Eingangshalle, schließt leise die Tür zur Krankenstation und späht durch die ächzende Tür nach draußen. Ein Laternenträger, nicht einmal zehn Schritte entfernt.
Er schaut in ihre Richtung, aber der Schein der Laterne blendet ihn.
Jetzt ist Meister Suzakus Stimme in der Krankenstation zu hören.
Der Türbogen bietet die einzige Fluchtmöglichkeit.
Das ist vielleicht das Ende , Orito zittert, das ist vielleicht das Ende.
Die Schreibstube ist gesäumt mit deckenhohen Regalen, gefüllt mit Schriftrollen und Handschriften. Auf der anderen Seite der Tür stolpert jemand und stößt einen leisen Fluch aus. Die Angst entdeckt zu werden, treibt Orito in den großen Raum, bevor sie sich vergewissert hat, ob sie allein ist. Eine Zwillingslampe wirft Licht auf zwei Schreibtische, und die Flammen eines kleinen Feuers züngeln am Kessel über dem Kohlenbecken. Die Seitengänge bieten die Möglichkeit, sich zu verstecken, aber ein Versteck , denkt Orito, kann auch zur Falle werden. Sie geht über den Gang zu einer anderen Tür, die, so vermutet sie, in die Wohnung von Meister Genmu führt, und tritt in den Lichtkreis der Lampe. Sie fürchtet sich, den leeren Raum zu verlassen, aber ebenso fürchtet sie sich, zu bleiben oder umzukehren. Unentschlossen blickt sie auf eine halbfertige Handschrift, die auf einem der Tische liegt: Abgesehen von den bemalten Wandbehängen im Haus der Schwestern sind dies die ersten Schriftzeichen, die die Gelehrtentochter seit ihrer Entführung zu Gesicht bekommt, und trotz der Gefahr wird ihr hungriger Blick davon angezogen. Es handelt sich nicht um ein Sutra oder eine Predigt, sondern um einen unvollendeten Brief. Nicht geschrieben in der kunstvollen Kalligraphie eines gebildeten Mönches, sondern in einer eher weiblichen Schrift. Die erste Spalte zwingt sie, die zweite zu lesen und dann die dritte ...
Liebe Mutter, der Herbst färbt die Ahornbäume flammend rot, und der Erntemond hängt am Himmel wie eine Laterne, so wie es in Die mondbeschienene Burg beschrieben wird. So fern erscheint mir der Tag in der Regenzeit, als der Diener des Fürstabts deinen Brief überbrachte. Er liegt vor mir auf dem Tisch meines Ehemannes. Ja, Koyama Shingo hat mich am günstigen dreizehnten Tag des siebten Monats im Shimogamo-Schrein zu seiner Frau genommen, und wir wohnen als frisch verheiratetes Paar in den beiden Hinterzimmern der Obi-Schneiderei Weißer Kranich in der Imadegawa-Straße. Nach der Trauzeremonie fand in einem berühmten Teehaus ein Festmahl statt, das von den Uedas und den Koyamas gemeinsam ausgerichtet wurde. Einige Freunde meines Mannes haben sich in bösartige Kobolde verwandelt, nachdem sie ihre Braut erobert hatten, aber Shingo behandelt mich weiter freundlich. Natürlich ist das Eheleben keine Bootsfahrt - so wie du es in deinem Brief vor drei Jahren geschrieben hast, darf eine pflichtgetreue Ehefrau niemals vor ihrem Mann zu Bett gehen oder nach ihm aufstehen, und dennoch hat der Tag nie genug Stunden! Bis sich der Weiße Kranich einen Namen gemacht hat, sparen wir und begnügen uns mit einem Hausmädchen, und auch mein Mann hat nur zwei Lehrlinge aus der Schneiderei seines Vaters mitgenommen. Ich freue mich jedoch, dir mitteilen zu können, dass wir uns die Gunst zweier Familien gesichert haben, die mit dem kaiserlichen Hof verbunden sind. Die eine gehört zu einem weniger bedeutenden Zweig des Konoe ...
Der Text bricht ab. Orito dreht sich der Kopf. Heißt das, alle Neujahrsbriefe werden von den Mönchen selbst geschrieben? Aber das ergibt doch keinen Sinn! Bis zum Abstieg der Mütter müssten viele, viele erfundene Lebensgeschichten fortgesponnen werden, und danach würde der Betrug auffliegen. Wozu dieser Aufwand? Weil , die wissenden Augen der dicken Ratte funkeln im Licht, die Kinder selber keine Neujahrsbriefe aus der Unteren Welt schreiben können, denn sie kommen nie dort an. Die Schatten in der Schreibstube
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