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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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ihre Reden in Fetzen reißen wie Papier ...
    «Warum macht er sich die Mühe und holt sich eine Samuraitochter», fragt die hohe Stimme, «wenn er in jedem Bordell im Land die freie Auswahl hat?»
    «Weil diese hier Hebamme ist», antwortet der Mann mit dem Dialekt. «Sie soll dafür sorgen, dass nicht mehr so viele unserer Schwestern und deren Gaben im Kindbett sterben. Es heißt, sie hätte den neugeborenen Sohn des Statthalters von den Toten zurückgeholt. Er war schon kalt und blau, aber Schwester Orito hat ihm wieder Leben eingehaucht ...»
    Nur deswegen , staunt Orito, hat Enomoto mich hierhergebracht?
    «... würde mich nicht wundern», fährt der Mann mit dem Dialekt fort, «wenn sie eine Ausnahme wäre.»
    «Meinst du damit», fragt die dritte Stimme, «dass nicht mal der Fürstabt ihr die Ehre erweist?»
    «Nicht einmal sie könnte verhindern, dass sie bei der Geburt stirbt, oder?»
    Hör nicht auf ihre Vermutungen , befiehlt sich Orito. Was ist, wenn sie sich irren?
    «Schade», sagt der Mann mit dem Dialekt. «Ist ein hübsches Ding, wenn man ihr nicht ins Gesicht sieht.»
    «Aber bis Ersatz für Jiritsu gefunden ist», sagt die hohe Stimme, «sind wir einer weniger ...»
    «Meister Genmu hat uns verboten», fällt ihm der Mann mit dem Dialekt ins Wort, «... auch nur den Namen dieses dreckigen Verräters zu erwähnen.»
    «Allerdings», stimmt die dritte Stimme zu. «Allerdings. Zur Strafe füllst du die Kohlenschütte auf.»
    «Aber wir wollten doch losen!»
    «Ach! Das war vor deinem schändlichen Ausrutscher. Holzkohle!»
    Die Tür wird aufgestoßen: Wütende Schritte kommen auf Orito zu, die sich ängstlich zusammenkauert. Der junge Mönch bleibt vor dem Bottich stehen und hebt den Deckel. Orito hört, wie ihm die Zähne klappern. Sie presst Mund und Nase an die Schulter, um ihren Atem unsichtbar zu machen. Schaufel für Schaufel füllt er den Eimer ...
    Gleich , sie zittert, gleich ...
    ... aber er dreht sich um und geht zurück zum Pförtnerhaus. Eine Jahresration Glück ist in wenigen Sekunden verbrannt wie Papiergebete.
    Orito verabschiedet sich von ihrem Plan, durch das Tor zu fliehen - sie denkt: Ein Seil ...
     
    Ängstlich und mit rasendem Puls schlüpft sie aus dem purpurnen Schatten durch das nächste Mondtor und gelangt in einen Innenhof, der von der Meditationshalle, dem Westflügel und der Schreinmauer begrenzt ist. Das Gästehaus ist ein Abbild vom Haus der Schwestern: Dort werden die Laienmönche aus Enomotos Gefolge untergebracht, wenn der Fürstabt sich im Schrein aufhält. Wie die Nonnen können auch sie ihr Gefängnis nicht verlassen. Im Westflügel, weiß Orito von den Schwestern, werden die Vorräte gelagert, außerdem befinden sich darin die Schlafstätten der dreißig bis vierzig Novizen. Die meisten werden fest schlafen, aber nicht alle. Im Nordwestteil befindet sich die Residenz des Fürstabts. Das Gebäude stand den ganzen Winter über leer, Orito hat die Hausmutter davon sprechen hören, dass das Bettzeug in den Wäscheschränken gelüftet werden müsse. Und aus Bettzeug , fällt ihr ein, kann man Seile knoten.
    Sie schleicht hinunter in den Graben zwischen Außenmauer und Gästehaus ...
    Durch die Tür dringt das leise Lachen eines jungen Mannes, dann verstummt es.
    Die edlen Materialien und der Dachfirst kennzeichnen das Gebäude als das Haus des Fürstabts.
    Von drei Seiten sichtbar, klettert sie hinauf zu der Giebeltür.
    Gebt, dass sie aufgeht , betet sie zu ihren Ahnen, gebt, dass sie aufgeht ...
    Die Tür ist zum Schutz vor Winterkälte verrammelt.
    Ich bräuchte Hammer und Meißel, um sie zu öffnen , denkt Orito. Sie hat das Haus schon fast umrundet, aber sie ist der Flucht nicht einen Schritt näher gekommen. Ohne ein zwanzig Fuß langes Seil muss ich zwanzig Jahre als Konkubine leben.
    Hinter dem Steingarten von Enomotos Haus liegt der Nordflügel.
    Dort, weiß Orito, wohnt Suzaku, gleich neben der Krankenstation ...
    ... und eine Krankenstation bedeutet Patienten, Betten, Laken und Mückennetze.
    Es ist gefährlich und leichtsinnig, einen der beiden Flügel zu betreten, aber was bleibt ihr anderes übrig?
     
    Die Tür bewegt sich langsam, und plötzlich gibt sie einen hohen, ächzenden Laut von sich. Orito stockt der Atmen, und sie horcht auf herbeieilende Schritte ...
    ... doch es bleibt still, und die unergründliche Nacht wiegt sich wieder in den Schlaf.
    Sie zwängt sich durch den Spalt: Ein Türvorhang streicht über ihr Gesicht. Im Schein des Mondlichts

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