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Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Zähne könnten ihr den Arm abbeißen, und greift hinein. Sie ertastet eine Mulde, und darin steckt eine bauchige Flasche, entweder aus Rauchglas oder mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt. Sie löst den Stopfen und schnuppert: Der Inhalt ist geruchlos. Als Arzttochter und Suzakus Patientin hütet sie sich davor, die Flüssigkeit zu probieren. Aber warum wird sie hier versteckt? Sie schiebt die Flasche zurück in die Mulde und sagt: «Was bist du? Was geschieht hier? Zu welchem Zweck?»
    Die steinernen Nasenflügel der Göttin können sich nicht blähen. Die unheilvollen Augen können sich nicht weiten ...
    Die Kerze erlischt. Das Gewölbe versinkt in Finsternis.
     
    Orito ist wieder im ersten Altarraum. Als sie sich für den Rückweg durch Meister Genmus Wohnung bereitmacht, bemerkt sie die Seidenbänder an den schwarzen Gewändern und verwünscht sich für ihre Dummheit. Zehn der geknoteten Bänder ergeben ein dünnes festes Seil, lang genug für die Schreinmauer: Zur Sicherheit verlängert sie es mit fünf weiteren Bändern. Sie rollt das Seil zusammen, schiebt die Tür auf und schleicht an der Wand entlang zu einer Seitentür. Ein abgeteilter Gang führt durch eine Außentür in Meister Genmus Garten. Am Mauerwall lehnt eine Bambusleiter. Sie steigt hinauf, befestigt das Seil an einem unauffälligen stabilen Balken und wirft es an der Außenseite hinunter. Ohne sich umzuschauen, nimmt sie ihren letzten, tiefen Atemzug in Gefangenschaft und lässt sich hinab in den trockenen Graben ...
    Noch bist du nicht in Sicherheit. An einem Spalier aus Winterästen hangelt sie sich aus dem Graben.
    Sie behält die Schreinmauer auf der rechten Seite und verbietet sich, an Yayoi zu denken.
    Große Zwillinge , denkt sie, vierzehn Tage überfällig, und ihr Becken ist noch schmaler als Kawasemis ...
    Am Westwinkel kämpft sie sich durch eine dichte Reihe Tannen.
    Jede zehnte bis zwölfte Geburt im Haus kostet die Mutter das Leben.
    Über steinhartes Eis und verwehte Tannennadeln gelangt sie in eine geschützte Senke.
    Mit Hilfe deines Wissens und deiner Fähigkeiten , das ist keine eitle Prahlerei, wäre es nur jede dreißigste.
    Der Wind bläst in raschen Böen durch die stechenden vereisten Bäume.
    «Du weißt, was die Männer dir antun, wenn du umkehrst», ermahnt sich Orito.
    Sie kommt zu dem Hang mit den zinnoberroten Torī-Toren. Der Nachthimmel hat sie schwarz gefärbt.
    Niemand kann von mir verlangen, dass ich ein Leben in Sklaverei erdulde, nicht einmal Yayoi ...
    Dann denkt sie über die Waffe nach, die sie aus der Schreibstube mitgenommen hat.
    An einem Neujahrsbrief zu zweifeln , könnte sie Genmu drohen, heißt, an allem zu zweifeln ...
    Würden sich die Schwestern weiter den Regeln des Hauses beugen, wenn sie wüssten, dass ihre Gaben nie in der Unteren Welt ankommen?
    Wer krankhaft rachsüchtig ist , würde sie hinzufügen, lässt sich nicht erfolgreich schwängern.
    Der Weg macht eine scharfe Biegung. Orion erscheint am Himmel.
    Nein. Orito verwirft den Gedanken, bevor sie ihn zu Ende gedacht hat. Ich gehe niemals mehr zurück.
    Sie konzentriert sich auf den steilen, vereisten Weg. Eine Verletzung, und ihre Hoffnung, im Morgengrauen bei Otanes Hütte zu sein, wäre dahin. Eine Achtelstunde später geht sie oberhalb der aus Holz und Ranken gebauten Todoroki-Brücke um eine Biegung und verschnauft. Der Berghang stürzt steil hinab in die Mekura-Klamm, gewaltig wie der Himmel ...
     
    ... Im Schrein geht eine Glocke. Es ist nicht die tiefe Stundenglocke, sondern eine Glocke mit hohem und eindringlichem Ton, die geschlagen wird, wenn bei einer Frau im Haus der Schwestern die Wehen einsetzen. Orito stellt sich vor, dass Yayoi nach ihr ruft. Sie stellt sich die Fassungslosigkeit über ihr Verschwinden vor und die Panik, mit der das ganze Gelände abgesucht wird. Sie stellt sich vor, dass das Seil entdeckt und Meister Genmu geweckt wird: Die Jüngste Schwester ist fort ...
    Sie stellt sich vor, dass die beiden miteinander verschlungenen Föten in Yayois Gebärmutterhals stecken bleiben.
    Wahrscheinlich werden Novizen ausgesandt, um sie zu suchen und den Wachen am Tor auf halber Strecke ihr Verschwinden mitzuteilen, und morgen wird man die Grenzübergänge in Isahaya und Kashima verständigen, aber ein Flüchtling kann in den endlosen Wäldern des Kyōga-Gebirges leicht untertauchen. Du gehst nur zurück , denkt Orito, wenn du dich dafür entscheidest.
    Sie stellt sich Yayois entsetzliche Schreie und einen hilflosen

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