Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
gibt es gar keinen nördlichen Innenhof?. Die Göttin vor ihr wird von einer wachenden Kerze beleuchtet. Sie ist gealtert seit dem ersten Raum, und ihr Lächeln ist fort. Sieh ihr nicht in die Augen , beharrt das Gefühl von eben. Es riecht nach Stroh, Tieren, Menschen. Der Dielenboden und die holzgetäfelten Wände lassen an das Haus eines recht wohlhabenden Bauern denken. An der hinteren Wand befinden sich zu beiden Seiten der Tür weitere hundertacht Ideogramme, dieses Mal auf zwölf vergilbte Schriftrollen getuscht. Orito bleibt kurz stehen, um sie zu lesen, doch auch diesmal lassen sich die verstörenden Zeichen nicht entziffern. Na und?, schilt sie sich. Geh weiter!
Sie öffnet die Tür, die endlich in den nördlichen Innenhof führen muss ...
Die Göttin in der Mitte des dritten Altarraums ist halb verfallen und hat keine Ähnlichkeit mehr mit der Figur im Gebetsraum des Klosters. Ihr Gesicht ist das einer Syphilitikerin, deren Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass nicht einmal eine Quecksilberkur sie noch heilen könnte. Ein Arm ist abgefallen und liegt auf dem Boden, und im Schein der Talgkerze sieht Orito einen Kakerlak aus einem Loch in ihrem Schädel krabbeln. Die Wände sind aus Lehm und Bambus, der Fußboden ist aus Stroh, und es riecht nach Mist: Man könnte den Raum für eine Bauernkate halten. Orito vermutet, dass die Räume in den Kahlen Gipfel geschlagen wurden oder aus bereits vorhandenen Höhlen entstanden sind, die vor langer Zeit den Grundstein des Schreins legten. Wenn ich Glück habe , denkt Orito, handelt es sich um einen Fluchttunnel, der noch aus der militärischen Vergangenheit des Schreins stammt. Die hintere Wand ist dunkel angestrichen - vielleicht mit einer Mischung aus Tierblut und Lehm -, und darauf sind mit weißer Tünche weitere unverständliche Zeichen geschrieben. Orito hebt den primitiven Riegel und betet, dass ihre Hoffnung sich bewahrheitet ...
Die Kälte und die Finsternis stammen aus einer Zeit, bevor es Menschen und Feuer gab.
Der Tunnel ist mannshoch und eine Armspanne breit.
Orito geht noch einmal zurück und holt die Kerze aus dem letzten Raum: Das Licht wird etwa für eine Stunde reichen.
Vorsichtig betritt sie den Tunnel.
Über dir ist der Kahle Gipfel , spottet die Angst, und erdrückt dich, erdrückt dich ...
Ihre Schuhe klappern über Stein, ihr Atem zittert, aber sonst herrscht Stille.
Die Kerze rußt mehr, als dass sie Licht spendet, aber sie ist besser als nichts.
Orito hält kurz inne: Die Flamme bewegt sich nicht. Kein Luftzug.
Der Tunnel bleibt mannshoch und eine Armspanne breit.
Orito setzt ihren Weg fort. Nach dreißig, vierzig Schritten geht es bergauf.
Sie stellt sich vor, dass sie durch einen verborgenen Spalt in sternenklare Nacht tritt ...
... und fragt sich besorgt, ob ihre Flucht Yayoi das Leben kosten wird.
Enomoto ist der Schuldige , wehrt sich ihr Gewissen, und Äbtissin Izu und die Göttin.
«So einfach ist die Wahrheit nicht», ermahnt ihr Echo leise ihr Gewissen.
Wird es wärmer , fragt sich Orito, oder habe ich Fieber?
Der Tunnel erweitert sich zu einem Gewölbe mit einer knienden Skulptur der Göttin in drei- bis vierfacher Lebensgröße. Zu Oritos Bestürzung endet der Tunnel hier. Die Skulptur ist aus schwarzem Stein mit hellen Sprenkeln, als hätte der Bildhauer sie aus einem Block Nachthimmel geschlagen. Orito überlegt, wie das Götterbild in den Raum geschafft wurde: Die einfachste Erklärung ist, dass der Stein sich seit der Erschaffung der Erde hier befindet und dass Menschen den Tunnel verbreitert haben, um zur Göttin zu gelangen. Deren Rücken wird von einem roten Umhang verhüllt, ihre riesenhaften Hände formen eine Mulde, groß genug für eine Wiege. Die Augen starren gierig in den Raum. Der raubtierhafte Mund ist aufgerissen. Wenn der Shiranui-Schrein eine Frage ist , denkt Orito - oder denkt der Gedanke Orito? dann ist dieser Ort die Antwort. Die glatten runden Wände sind in Schulterhöhe mit weiteren unergründlichen Schriftzeichen versehen: einhundertacht, davon ist Orito überzeugt, eines für jede buddhistische Sünde. Irgendetwas zieht ihre Hand zum Schenkel der Göttin, und als sie ihn berührt, lässt sie fast die Kerze fallen: Der Stein ist warm wie das Leben. Die Gelehrte sucht nach einer Antwort: Kanäle einer nahe gelegenen Thermalquelle ... Im Mund der Göttin, dort, wo die Zunge sein sollte, glitzert etwas im Kerzenlicht. Orito übergeht die abgründige Angst, die steinernen
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