Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Die tausend Herbste des Jacob de Zoet

Titel: Die tausend Herbste des Jacob de Zoet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
Gesicht. Das letzte Bild zeigt ihren Gesichtsausdruck, als sie ihren Retter erkennt. Uzaemon vollführt zitternd ein paar Schwertübungen, aber es ist zu kalt, um sich zu konzentrieren, und so macht er sich daran, sich einen Namen für sein neues Leben auszudenken. Den Vornamen hat ihm, ohne es zu wissen, Shuzai gegeben - Junrei, der Pilger -, aber welchen Familiennamen soll er wählen? Er könnte darüber mit Orito sprechen: Vielleicht kann er den Namen Aibagawa annehmen. Du forderst das Schicksal heraus , ermahnt er sich, dir dein Glück zu stehlen. Er reibt sich die steifgefrorenen Hände und überlegt, wie viel Zeit schon vergangen ist, seit Shuzai den Überfall begonnen hat. Er weiß es nicht. Eine Achtelstunde? Eine Viertel? Die Schreinglocke hat nicht mehr geläutet, seit sie die Todoroki-Brücke überquert haben. Für die Mönche gibt es keinen Grund, die Nachtstunden anzuzeigen. Wie lange soll er warten, bevor er zu dem Schluss kommen muss, dass die Rettung gescheitert ist? Und was dann? Wenn die Mönche Shuzais herrenlose Samurai überwältigt haben, welche Aussichten hat dann ein ehemaliger Dolmetscher dritten Ranges?
    Todesgedanken schleichen sich durch die Pinien an ihn heran.
    Er wünscht sich, der menschliche Geist wäre eine Schriftrolle, die man beiseitelegen könnte ...
     
    «Junrei-san, wir haben ...»
    Ein sprechender Baum: Uzaemon fährt zusammen und verliert das Gleichgewicht.
    «Haben wir dich erschreckt?» Der Schatten eines Felsblocks verwandelt sich in den Söldner Tanuki.
    «Ein wenig, ja.» Uzaemon beruhigt seinen Atem.
    «Wir haben die Frau», Kenka steigt aus dem Baum. «Sie ist in Sicherheit.»
    «Gut», sagt Uzaemon. «Sehr, sehr gut.»
    Eine schwielige Hand greift Uzaemons Hand und hilft ihm aufzustehen. «Wurde jemand verletzt?» Eigentlich wollte Uzaemon fragen: «Wie geht es Orito?»
    «Niemand», sagt Tanuki. «Meister Genmu ist ein Mann des Friedens.»
    «Das heißt», fügt Kenka hinzu, «er duldet wegen einer Nonne kein Blutvergießen in seinem Schrein. Aber er ist ein schlauer alter Fuchs, und Deguchi-san sagt, bevor wir abziehen und sie das Tor verrammeln, sollst du dich überzeugen, dass uns der Mann des Friedens nicht mit einem Köder prellt.»
    «Es gibt nämlich zwei Nonnen mit verbranntem Gesicht.» Tanuki zieht den Stopfen aus einer kleinen Flasche und trinkt. «Ich war im Haus der Schwestern. Eine kuriose Menagerie hat Enomoto sich dort zusammengestellt! Hier, trink: Das schützt vor der Kälte und gibt dir Kraft. Warten ist schlimmer als handeln.»
    «Nein, danke.» Uzaemon zittert. «Mir ist warm genug.»
    «Du hast drei Tage Zeit, um dich hundertfünfzig Kilometer vom Lehen Kyōga zu entfernen. Am besten, du setzt nach Honshu über. Mit einer Erkältung in der Lunge kommst du nicht so weit. Trink!»
    Uzaemon nimmt die schroffe, gutgemeinte Geste an. Der Alkohol brennt ihm in der Kehle. «Danke.»
    Die drei gehen zurück zu dem Tunnel aus Torī-Toren.
    «Vorausgesetzt, ihr habt die richtige Aibagawa-san gesehen, in welchem Zustand habt ihr sie vorgefunden?»
    Die beiden Söldner zögern, und Uzaemon befürchtet das Schlimmste.
    «Mager», antwortet Tanuki, «aber wohlauf, würde ich sagen. Gefasst.»
    «Ihr Verstand ist klar», fährt Kenka fort. «Sie hat nicht gefragt, wer wir sind: Sie wusste, dass ihre Geiselnehmer uns vielleicht belauschen. Ich kann verstehen, dass ein Mann für diese Frau so viel Zeit und Geld aufwendet.»
    Sie erreichen den Weg und beginnen den letzten Aufstieg durch die Torī-Tore.
    Uzaemon verspürt ein eigenartiges Schwächegefühl in den Beinen. Die Aufregung, denkt er, das ist ganz normal.
    Doch schon bald wogt der Weg wie steigender Seegang.
    Die letzten beiden Tage waren anstrengend. Er versucht, gleichmäßig zu atmen. Aber das Schlimmste ist vorüber.
    Hinter den Torī-Toren wird der Boden eben. Vor ihnen erhebt sich der Shiranui-Schrein.
    Dächer ducken sich hinter hohen Mauern. Durch einen Spalt im Tor dringt schwaches Licht.
    Er hört Dr. Marinus’ Cembalo. Er denkt: Das kann nicht sein.
    Seine Wange drückt sich in den überfrorenen Laubkompost, weich wie der Bauch einer Frau.

    Das Bewusstsein regt sich in den Nasenschleimhäuten und breitet sich in seinem Kopf aus, aber er kann sich nicht bewegen. Fragen und Feststellungen drängen sich um ihn wie eine Schar Besucher am Bett eines Kranken: «Du bist wieder ohnmächtig geworden», sagt jemand. «Du bist im Shiranui-Schrein», sagt ein anderer, und dann reden alle durcheinander:

Weitere Kostenlose Bücher