Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
kommt es mir so vor, als hätte unser Geist einen eigenen Geist. Er zeigt uns Bilder. Bilder der Vergangenheit und von den Dingen, die eines Tages vielleicht geschehen. Dieser Geistesgeist hat sogar einen eigenen Willen und eine eigene Stimme.» Er sieht seinen Freund an, der einen Raubvogel am Himmel beobachtet. «Ich rede wie ein betrunkener Priester.»
«Keineswegs», murmelt Shuzai. «Keineswegs.»
Weiter oben wird die Schlucht von Kalksteinfelsen eingerahmt. Uzaemon erblickt in dem verwitterten Gestein Teile von Gesichtern. Eine Ausbuchtung ähnelt einer Stirn, ein vorstehender Grat stellt eine Nase dar, Zerklüftungen und Bergstürze sind Falten und hängende Haut. Sogar Berge, denkt er, waren einmal jung: Sie altern, und eines Tages sterben sie. Ein schwarzer Spalt unter einem buschbewachsenen Felsvorsprung ähnelt einem zusammengekniffenen Auge. Er stellt sich zehntausend Fledermäuse vor, die an diesem Vorsprung hängen ...
... und auf einen Frühlingsabend warten, der das Feuer in ihren kleinen Herzen neu entfacht.
Je höher sie kommen, erkennt der Bergsteiger, desto tiefer muss sich das Leben vor dem Winter verstecken. Pflanzensaft ist in die Wurzeln hinuntergesunken, Bären schlafen, die Schlangen des nächsten Jahres sind noch nicht geschlüpft.
Mein Leben in Nagasaki , denkt Uzaemon, ist ebenso vorbei wie meine Kindheit in Shikoku.
Uzaemon denkt an seine Adoptiveltern und an seine Frau, die jetzt ihren Angelegenheiten, Ränken und Zankereien nachgehen, ohne zu ahnen, dass sie ihren Adoptivsohn und Ehemann verloren haben. So wird es viele Monate lang gehen.
Er legt die Hand auf die Stelle über seinem Zwerchfell, wo er Oritos Briefe verwahrt.
Bald, Geliebte, bald , denkt er. Nur noch wenige Stunden ...
Indem er versucht, nicht an die Gebote des Ordens zu denken, denkt er an sie.
Seine Hand hat sich so fest um den Schwertgriff gelegt, dass die Fingerknöchel weiß sind.
Er fragt sich, ob Orito bereits schwanger ist.
Ich werde für sie sorgen , gelobt er, und das Kind wie mein eigenes großziehen.
Weißbirken zittern. Ihre Wünsche sind das Einzige, was zählt.
«Wie war es», Uzaemon hat Shuzai diese Frage noch nie gestellt, «als du zum ersten Mal einen Menschen getötet hast?» Die Berghorne klammern sich mit ihren Wurzeln an die steile Böschung. Shuzai führt die Gruppe schweigend weiter, bis sie zu einem plätschernden See kommen. Er sucht mit Blicken das steile Gelände ab, als würde er mit Angreifern rechnen ...
... und neigt den Kopf zur Seite wie ein Hund. Er hört etwas, das Uzaemons Ohren entgeht.
Das leise Lächeln des Schwertkämpfers sagt: Einer der Unsrigen. «Beim Töten kommt es, wie du dir denken kannst, auf die Umstände an: Ist es ein kaltblütig geplanter Mord, das Ergebnis eines erbitterten Kampfes, oder tötet man aus Ehre oder niederen Beweggründen? Aber ganz gleich, wie oft du tötest, entscheidend ist das erste Mal. Wenn ein Mann das erste Mal Blut vergossen hat, ist er aus der gewöhnlichen Welt verbannt.» Shuzai kniet sich ans Ufer, schöpft Wasser aus dem See und trinkt. Ein gefiederter Fisch schwebt in der Strömung; eine leuchtende Beere schwimmt vorbei. «Erinnerst du dich an den rücksichtslosen Fürsten, von dem ich dir erzählt habe?» Shuzai erklimmt einen Felsen. «Ich war sechzehn und schwor, dem gierigen Tölpel zu dienen. Die Hintergründe des Zwists lasse ich jetzt beiseite, sie sind zu kompliziert, und beginne mit einer drückenden Nacht im sechsten Monat, als ich, getrennt von meinen Kameraden, am Berg Ishizuchi durchs Dickicht irrte. Es war stockfinster, und das Quaken der Frösche übertönte jedes Geräusch. Plötzlich gab der Boden unter meinen Füßen nach, und ich fiel in ein Erdloch. Der feindliche Späher, der sich darin versteckt hielt, war so überrascht wie ich, und eingezwängt in dem engen Erdloch versuchten wir vergeblich, nach unseren Schwertern zu greifen. Wir wanden uns, tasteten blind umher, aber beide riefen wir nicht um Hilfe. Seine Hände legten sich um meinen Hals und drückten zu, unerbittlich wie der Tod. Röchelnd rang ich nach Atem, mir wurde schwarz vor Augen, und ich dachte verzweifelt: Es ist vorbei ..., aber das Schicksal wollte es anders. Vor langer Zeit hatte die Vorsehung bestimmt, dass der feindliche Fürst einen Halbmond als Wappen tragen solle. Das Abzeichen war so lose am Helm des Würgers befestigt, dass es unter meiner Hand abbrach, und so bohrte ich das scharfe Metall durch den Schlitz der
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