Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
«Hat man dich betäubt?», «Du sitzt aufrecht auf kalter nackter Erde», «Ja, man hat dich betäubt: Tanukis Getränk?», «Deine Hände sind hinter einer Säule zusammengebunden, und deine Füße sind gefesselt», «Wurde Shuzai von einem seiner Männer verraten?»
«Er kann uns jetzt hören, Abt», sagt eine unbekannte Stimme.
Die Spitze einer Glasflasche berührt Uzaemons Nase.
«Danke, Suzaku», sagt eine bekannte Stimme, die er noch nicht zuordnen kann.
Es riecht nach Reis, Sake und eingelegtem Gemüse: Er muss in einem Speicher sein.
Oritos Briefe. Die Stelle auf seinem Bauch fühlt sich leer an. Sie sind weg.
Stechender Schmerz dringt wie ein Wespenschwarm in sein taubes Hirn.
«Öffnen Sie die Augen, Ogawa der Jüngere», sagt Enomoto. «Wir sind keine Kinder mehr.»
Er gehorcht, und im Licht der Laternen taucht das Gesicht des Fürsten von Kyōga auf
«Sie sind ein achtenswerter Gelehrter», sagt das Gesicht. «Aber ein lachhaft miserabler Dieb.»
An den Seiten sind schemenhaft drei oder vier Gestalten zu erkennen.
«Ich bin nicht hergekommen, um etwas zu stehlen», erklärt Uzaemon seinem Bezwinger, «das Euch gehört.»
«Warum nötigen Sie mich, deutlicher zu werden? Der Shiranui-Schrein ist ein Organ im Körper des Lehens Kyōga. Die Schwestern gehören dem Schrein.»
«Weder hatte ihre Stiefmutter das Recht, sie zu verschachern, noch hattet Ihr das Recht, sie zu kaufen.»
«Schwester Aibagawa ist eine freudige Dienerin der Göttin. Sie hat nicht den Wunsch, das Kloster zu verlassen.»
«Das würde ich gern von ihr selbst hören.»
«Nein. Wir mussten einige Denkweisen ihres alten Lebens aus ihr ...», Enomoto tut so, als suche er nach dem treffenden Wort, «... herausbrennen. Die Wunden sind verheilt, doch nur ein gleichgültiger Fürstabt würde zulassen, dass ein fahriger ehemaliger Geliebter darin herumstochert.»
Die anderen , denkt Uzaemon. Was ist mit Shuzai und den anderen?
«Shuzai ist wohlauf», sagt Enomoto. «Er und die übrigen zehn meiner Leute schlürfen Suppe in der Küche. Ihr Komplott hat ihnen einiges abverlangt.»
Uzaemon will es nicht glauben. Ich kenne Shazai seit zehn Jahren.
«Er ist ein getreuer Freund», Enomoto verkneift sich mühsam ein Lächeln, «aber nicht Ihr getreuer Freund.»
Er lügt , beharrt Uzaemon, er lügt. Er sucht nur nach dem passenden Schlüssel zu meinen Gedanken ...
«Warum sollte ich lügen?» Mitternachtsblaue Moireseide wogt auf, als Enomoto sich näher zu ihm setzt. «Nein, dies ist die beachtenswerte Geschichte von Ogawa Uzaemon und seiner Unzufriedenheit. Als Adoptivsohn einer einst berühmten Familie erlangte er dank seiner Begabungen eine hohe Stellung, erfreute sich der Achtung der Shirandō-Akademie, eines sicheren Einkommens, einer hübschen Gattin und beneidenswerter Handelsmöglichkeiten mit den Niederländern. Wer könnte mehr verlangen? Ogawa Uzaemon verlangte mehr! Er war mit der Krankheit infiziert, die die Welt ‹wahre Liebe› nennt. Am Ende ist er daran gestorben.»
Die schemenhaften Gestalten am Rand bewegen sich.
Ich werde nicht um mein Lehen betteln , gelobt sich Uzaemon, aber ich will wissen, warum ich sterben muss. «Wie viel habt Ihr Shuzai bezahlt, damit er mich verrät?»
«Kommen Sie! Die Gunst des Fürsten von Kyōga ist mehr wert als die Prämie eines Kopfgeldjägers.»
«Ein junger Mann, ein Wachposten, der am Tor auf halber Strecke gestorben ist ...»
«Ein Spitzel im Dienst des Fürsten von Saga: Ihr gewagtes Unterfangen gab uns eine gute Gelegenheit, ihn aus dem Weg zu schaffen.»
«Warum habt Ihr so viel Aufwand betrieben, mich auf den Shiranui zu locken?»
«Ein Mord in Nagasaki hätte unangenehme Fragen zur Folge haben können, und die Vorstellung, dass Sie sterben, so nah Ihrer Geliebten - nur ein paar Zimmer von ihr entfernt! -, war unwiderstehlich poetisch.»
«Ich will sie sehen», der Wespenschwarm schwirrt durch Uzaemons Hirn, «oder ich werde Euch töten, wenn ich auf der anderen Seite bin.»
«Wie hübsch: ein Todesfluch von einem Shirandō-Gelehrten! Leider verfüge ich über ausreichend empirische Beweise, um einen Descartes und sogar einen Marinus davon zu überzeugen, dass Todesflüche wirkungslos sind. Im Laufe der Jahrhunderte haben unzählige Männer, Frauen und selbst kleine Kinder gelobt, mich hinunter in die Hölle zu ziehen. Wie Sie sehen, wandle ich noch immer auf unserer wunderbaren Erde.»
Er will meine Angst auskosten. «Dann glaubt Ihr also an die irrsinnigen
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