Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
klopft sich auf den Oberkörper. «Vielen Dank.»
De Zoet bemerkt den Go-Tisch, wo das Spiel mit Enomoto wartet.
Der Statthalter fragt den Niederländer: «Ist dieses Spiel in Holland bekannt?»
«Nein. Dolmetscher Ogawa hat mir in den ersten Wochen auf Dejima ...», er berät sich mit Iwase, «... die Grundzüge beigebracht. Wir wollten das Spiel nach Abschluss der Handelszeit fortsetzen, aber dies wurde durch die unglücklichen Ereignisse vereitelt ...»
Tauben gurren, ein friedliches Geräusch an diesem angstvollen Nachmittag.
Ein Gärtner harkt die weißen Steine am bronzefarbenen Teich.
«Es verstößt gegen das Zeremoniell», Shiroyama wendet sich dem Geschäft zu, «in diesem Raum zu tagen, aber wenn wir jeden Ratgeber, Weisen und Geomantiker in Nagasaki in den Saal der Sechzig Matten pferchen, wird daraus der Saal der Sechs Matten und Sechshundert Stimmen. Niemand kann mehr einen klaren Gedanken fassen.»
«Stellvertreter Fischer wird hocherfreut sein über das Publikum.»
Shiroyama bemerkt, dass de Zoet sich auf höfliche Weise von Fischer distanziert. «Nun, zunächst», er nickt den Schreibern zu, «zu diesem Kriegsschiff. Fībasu. Kein Dolmetscher kennt dieses Wort.»
«‹Phoebus› ist kein niederländisches, sondern ein griechisches Wort, Exzellenz. Phoebus war der Sonnengott. Sein Sohn war Phaeton.» De Zoet hilft den Schreibern bei dem schwierigen Namen. «Phaeton prahlte mit seinem berühmten Vater, aber seine Freunde sagten: ‹Deine Mutter behauptet bloß, dein Vater sei der Sonnengott, weil sie keinen Mann hat.› Phaeton war darüber sehr bekümmert, und sein Vater versprach, ihm dabei zu helfen, den anderen zu beweisen, dass er tatsächlich ein Sohn des Himmels sei. Phaeton bat: ‹Lass mich den Sonnenwagen über den Himmel lenken!›»
De Zoet legt eine Pause ein, damit die Schreiber aufschließen können.
«Phoebus wollte seinen Sohn davon abbringen. ‹Die Pferde sind wild›, sagte er, ‹und der Wagen fliegt zu hoch. Bitte mich um etwas anderes.› Aber Phaeton bestand darauf, und Phoebus musste einwilligen: Ein Versprechen ist ein Versprechen, auch in einer Sage - dort ganz besonders. Im Morgengrauen stieg der Sonnenwagen, geführt von dem jungen Mann, von Osten her am Himmel auf, hoch und immer höher. Zu spät bereute er seinen Starrsinn. Die Pferde waren tatsächlich wild! Zuerst fuhr er zu hoch hinaus, und alle Flüsse und Wasserfälle auf der Welt verwandelten sich zu Eis. Also lenkte Phaeton den Wagen auf die Erde zu, aber er kam zu dicht heran: Er verbrannte Afrika, sodass die Haut der Äthiopier sich schwarz färbte, und zündete die Städte der Antike an. Schließlich griff der Gott Zeus ein, der König des Himmels.»
«Schreiber: Einhalten.» Shiroyama fragt: «Ist dieser Zeus ein Christ?»
«Ein Grieche, Exzellenz», sagt Iwase, «ähnlich Ame-no-Minaka-nushi.»
Der Statthalter weist de Zoet an, fortzufahren.
«Zeus schleuderte einen Blitz auf den Sonnenwagen. Der Wagen zerbarst, und Phaeton stürzte hinunter auf die Erde. Er ertrank im Fluss Eridanos. Phaetons Schwestern, die Heliaden, beweinten ihren toten Bruder und wurden in Bäume verwandelt - bei uns nennen wir sie Pappeln, ich weiß nicht, ob sie auch in Japan wachsen. Als die Schwestern Bäume waren, wurde aus ihren Tränen ...», de Zoet fragt bei Iwase nach, «... Bernstein. So ist der Bernstein entstanden, und die Geschichte ist zu Ende. Verzeihen Sie mein schlechtes Japanisch.»
«Glauben Sie, dass an dieser Geschichte etwas Wahres ist?»
«Nichts daran ist wahr, Exzellenz.»
«Dann benennen die Engländer ihre Kriegsschiffe nach Lügenmärchen?»
«Die Wahrheit einer Sage, Exzellenz, liegt nicht in ihren Worten, sondern in ihrem Sinngehalt.»
Shiroyama speichert die Bemerkung und wendet sich wieder der dringlichen Angelegenheit zu. «Heute Morgen überbrachte Stellvertreter Fischer einen Brief des englischen Kapitäns. Er sendet uns darin Grüße vom englischen König Georg, auf Niederländisch. Außerdem behauptet er, dass die niederländische Kompanie bankrott sei, dass Holland nicht mehr existiere und dass jetzt ein britischer Generalgouverneur in Batavia regiere. Der Brief schließt mit der Warnung, die Franzosen, die Russen und die Chinesen würden eine Invasion unserer Inseln vorbereiten. König Georg bezeichnet Japan als ‹das Großbritannien des Pazifiks› und dringt darauf, dass wir einen Freundschafts- und Handelsvertrag unterzeichnen. Bitte sagen Sie mir, was Sie darüber
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