Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Marinus, der, wahrscheinlich auf Aramäisch, eine Bemerkung über die Kürze des Lebens macht. Natürlich ist das nur ein Streich seiner Einbildungskraft. Sechs Wochen später sehen die Passagiere in der Ferne Kapstadt mit dem Tafelberg, und Jacob erinnert sich bruchstückhaft an eine Geschichte, die Faktor van Cleef ihm vor vielen Jahren auf dem Dach eines Bordells erzählt hat. Schiffsfieber, ein wütender Sturm vor den Azoren und ein Scharmützel mit einem Berber-Kaperschiff machen die Atlantiketappe beschwerlich, aber in der Reederei auf Texel verlässt Jacob bei Hagelsturm wohlbehalten das Schiff. Der Hafenmeister empfängt ihn mit der höflichen Aufforderung, sich im Ministerium für Handel und die Kolonien in Den Haag einzufinden, wo der Beitrag, den er während des Krieges im fernen Asien geleistet hat, mit einer kurzen Feier gewürdigt wird. Er fährt weiter nach Rotterdam und steht an demselben Kai, wo er einst einer jungen Frau namens Anna versprach, binnen sechs Jahren als vermögender Mann aus Ostindien zurückzukehren. Geld besitzt er jetzt genug, aber Anna ist vor langer Zeit im Kindbett gestorben, und so fährt Jacob mit dem Postschiff nach Veere auf Walcheren. Die Windmühlen auf seiner vom Kriege heimgesuchten Heimatinsel sind wiederaufgebaut und arbeiten. Niemand in Veere erkennt den heimgekehrten Domburger. Nach Vrouwenpolder ist es nur eine halbe Tagesreise mit dem Pferdewagen, aber Jacob geht lieber zu Fuß, denn er will den Nachmittagsunterricht in der Schule von Geertjes Mann nicht stören. Er klopft an die Tür, und seine Schwester öffnet. «Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer, mein Herr, möchten Sie vielleicht -», dann reißt sie die Augen auf und lacht, während ihr die Tränen über das Gesicht laufen.
Am folgenden Sonntag sitzt Jacob zwischen vertrauten Gesichtern, die ebenso gealtert sind wie seines, in der Kirche von Domburg und lauscht der Predigt. Er besucht die Gräber seiner Mutter, seines Vaters und seines Onkels, aber die Einladung des neuen Pastors, mit ihm im Pfarrhaus zu speisen, lehnt er ab. Er reitet nach Middelburg zu Besprechungen mit den Direktoren von Handelshäusern und Importfirmen. Posten werden ihm angetragen, Entscheidungen werden gefällt, Verträge unterzeichnet, und Jacob wird in die Freimaurerloge eingeführt. In der Pfingstzeit, zur Tulpenblüte, tritt er am Arm der einfältigen Tochter eines Geschäftspartners aus der Kirche. Der Konfettiregen erinnert Jacob an die Kirschblüten in Miyako. Dass Frau de Zoet nur halb so alt ist wie ihr Gatte, erregt keinen Anstoß - ihre Jugend ist eine angemessene Gegenleistung für sein Geld. Mann und Frau empfinden die Gesellschaft des anderen als angenehm, meistens jedenfalls oder ganz sicher manchmal, zumindest in den ersten Ehejahren. Er beabsichtigt, seine Erinnerungen an die Zeit als Faktoreileiter in Japan zu veröffentlichen, aber irgendwie raubt ihm das Leben immer wieder die Zeit. Jacob wird fünfzig. Er wird in den Stadtrat von Middelburg gewählt. Jacob wird sechzig, und seine Erinnerungen sind noch immer ungeschrieben. Sein Gesicht wird schlaff, das kupferrote Haar verblasst, und die Stirn wird immer höher, bis seine Frisur dem rasierten Schädel eines alten Samurai ähnelt. Ein aufstrebender Künstler, der sein Porträt malt, staunt über seine melancholische, gedankenversunkene Ausstrahlung, aber er beseitigt alle Entrücktheit aus dem fertigen Gemälde. Eines Tages vermacht Jacob den Psalter der de Zoets seinem ältesten Sohn - nicht Yūan, der vor ihm gestorben ist, sondern seinem ältesten niederländischen Sohn, einem pflichtbewussten Jungen, der nur wenig Interesse am Leben außerhalb Zeelands zeigt. Dann kommt ein stürmischer Herbstabend Ende Oktober oder Anfang November. Der Tag hat die Ulmen und Bergahorne ihrer letzten Blätter beraubt, und als der Laternenanzünder seine Runde macht, versammelt sich Jacobs Familie am Bett des Patriarchen. Der beste Arzt in Middelburg macht ein ernstes Gesicht, aber er ist zufrieden: Er weiß, dass er während der kurzen, einträglichen Krankheit alles für seinen Patienten getan hat und zum Abendessen zu Hause sein wird. Das Kaminfeuer spiegelt sich im Pendel der Uhr, und in den letzten Momenten des Jacob de Zoet verwandeln sich die bernsteingelben Schatten in der Ecke in die Gestalt einer Frau.
Sie schlüpft unbemerkt zwischen den größeren, beleibteren Angehörigen hindurch ...
... und zieht das Kopftuch zurecht, um ihr Brandmal zu verbergen.
Sie legt
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