Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
ihn.»
«Guten Tag, Domburger», hallt der Chor von den weiß getünchten Wänden.
Jacob kann kaum glauben, dass die ihm gewährte Zeit so rasch verstrichen ist.
Marinus nimmt einen metallenen Zylinder von ungefähr zwanzig Zentimeter Höhe zur Hand.
An einem Ende befindet sich ein Kolben, am anderen eine Kanüle. «Das ist was, Herr Muramoto?»
Der ältlich wirkende Jüngling antwortet: «Es heißen Klistierspritze, Herr Doktor.»
«Eine Klistierspritze.» Marinus fasst Jacob bei der Schulter. «Herr Kajiwaki: Wie verwenden wir unsere Klistierspritze?»
«In Rektum einführen, und Arznei einlaufen ... nein, ersetzen ... nein, aaa ̕ nan'dattaka ? Ein-...»
«-leiten», flüstert Ikematsu für alle hörbar.
«... Arznei einleiten gegen Verstopfung oder Schmerz in Bauch oder viel andere Leiden.»
«Ganz genau, ganz genau; und worin, Herr Yano, liegt der Vorteil von anal verabreichten Arzneien gegenüber oral verabreichter Medizin?»
Als die männlichen Studenten den Unterschied zwischen «anal» und «oral» geklärt haben, antwortet Yano: «Körper nimmt Arznei schneller auf.»
«Gut.» Ein boshaftes Lächeln umspielt Marinus’ Lippen. «So, wer weiß, was ein Rauchklistier ist?»
Die männlichen Studenten beratschlagen sich, ohne Fräulein Aibagawa einzubeziehen. Schließlich sagt Muramoto: «Wir wissen nicht, Herr Doktor.»
«Das können Sie auch gar nicht, meine Herren: Das Rauchklistier ist in Japan bis zu dieser Stunde unbekannt gewesen. Eelattu, darf ich bitten!» Marinus’ Assistent erscheint mit einem unterarmlangen Lederschlauch und einer bauchigen, brennenden Pfeife. Er übergibt den Schlauch seinem Herrn, der damit herumfuchtelt wie ein Straßengaukler. «Unser Rauchklistier, meine Herren, verfugt in der Mitte - hier - über eine Klappe, in die man den Lederschlauch einsetzt - so. Auf diese Weise kann sich der Zylinder mit Rauch füllen. Bitte, Eelattu ...» Der Ceylonese inhaliert Rauch aus der Pfeife und pustet ihn in den Schlauch. «‹In-tus-sus-zep-tion› heißt die Krankheit, die mit diesem Instrument geheilt wird. Wir wollen das Wort gemeinsam sagen, Famuli, denn wer kann etwas heilen, das er nicht aussprechen kann? ‹In-tus-sus- zep -tion!›» Er schwingt den Finger wie ein Dirigent den Taktstock. «Eins, zwei, eins, zwei, drei ...»
«In-tus-sus- zep -tion», rufen die Studenten zögerlich. «In-tus-sus- zep -tion.»
«Eine tödliche Erkrankung, bei der sich ein Darmabschnitt in einen anderen einstülpt, so ...» Der Arzt hält ein zusammengenähtes Stück Segeltuch hoch, das aussieht wie ein Hosenbein. «Das ist der Dickdarm.» Er nimmt das Tuch an einem Ende, drückt es mit der Faust zusammen und schiebt den entstandenen Wulst von unten in den Stoffschlauch. «Aua und itai. Die Diagnose ist schwierig: Die Symptome äußern sich in den drei klassischen Verdauungsbeschwerden, nämlich, Herr Ikematsu?»
«Bauchschmerz, geschwollener Unterleib ...» Er reibt sich auf der Suche nach dem dritten Wort die Schläfen. «Ah! Blut in Stuhl.»
«Gut: Der Tod durch Intussuszeption oder», er sieht Jacob an, «wie der Volksmund sagt, ‹die eigenen Gedärme ausscheißen›, ist, wie Sie sich denken können, eine lange, qualvolle Angelegenheit. Die lateinische Bezeichnung lautet ‹ miserere mei ›, zu übersetzen mit ‹Gott sei mir gnädig›. Mit dem Rauchklistier lässt sich das Übel jedoch folgendermaßen beheben.» Er zieht den Wulst wieder heraus. «Man pustet so viel Rauch in den Darm, dass er sich wieder ausstülpt und in seinen natürlichen Zustand zurückkehrt. Der Domburger wird der Heilkunde zum Dank für erwiesene Gefälligkeiten seinen gluteus maximus zur Verfügung stellen, damit ich demonstrieren kann, wie der Rauch durch unergründliche Hohlräume vom Anus bis zur Speiseröhre dringt und schließlich durch die Nase ausströmt wie Räucherwerk aus einem steinernen Drachen, allerdings, muss leider hinzugefügt werden, bei weitem nicht so wohlriechend ...»
Allmählich begreift Jacob. «Sie haben doch nicht etwa vor ...»
«Runter mit der Hose! Wir alle sind Männer der Medizin - und eine Dame.»
«Doktor Marinus!» Im Krankenzimmer ist es plötzlich unangenehm kühl. «Dazu habe ich mich nie bereit erklärt!»
«Die Angst behandelt man am besten», Marinus dreht Jacob mit einer angesichts seiner Behinderung erstaunlichen Gewandtheit um, «indem man sie einfach vergisst. Eelattu: Die Famuli sollen sich das Instrument genau ansehen. Danach beginnen wir.»
«Ein
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