Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
eine Pistole, er würde sich auf der Stelle erschießen. «Ich mache nur Spaß, Fräulein! Der Affe ist kerngesund. Er springt munter umher und stiehlt ...»
« Sehr richtig, Herr Muramoto.» Marinus’ Stimme dringt aus dem Behandlungszimmer. «Zuerst entfernt man das Unterhautfett, anschließend injiziert man farbiges Wachs in die Adern ...»
«Sollen wir ...», Jacob verwünscht sich für den misslungenen Scherz, «... Ihr Buch aufschlagen?»
Sie überlegt, wie sich das aus sicherer Entfernung bewerkstelligen lässt.
«Fräulein Aibagawa könnte dort Platz nehmen.» Er deutet auf das Bettende. «Lesen Sie laut vor, und wenn Sie auf ein schwieriges Wort stoßen, sprechen wir darüber.»
Sie zeigt mit einem Nicken, dass sie mit dieser Lösung einverstanden ist, setzt sich und fängt an vorzulesen.
Van Cleefs Kurtisane spricht mit hoher Stimme, was offenbar als feminin gilt. Fräulein Aibagawas Lesestimme ist tiefer, leiser und strahlt etwas Beruhigendes aus. Jacob ist froh, einen Vorwand zu haben, ihr Gesicht und die sorgfältig buchstabierenden Lippen in Ruhe zu betrachten ... «‹Kurz nach diesem Vor-komm-nis ...›» Sie blickt auf. «Was ist das, bitte?»
«Ein Vorkommnis ist ein ... ein Ereignis oder ein Vorfall.»
«Vielen Dank. ‹... nach diesem Vorkommnis studierte ich alles, was Ruysch über Frauen geschrieben hatte und ... stellte fest, dass er entschieden gegen eine vorzeitige Extraktion der Plazenta eiferte. Sein Sachverstand bestätigte mich in der Meinung, die ich mir bereits gebildet hatte ... und veranlasste mich, auf eine natürlichere Weise vorzugehen. Wenn ich den Nabelstrang durchtrennt ... und das Kind aus den Händen gegeben habe ... führe ich den Finger in die Vagina ein ...›»
Noch nie hat Jacob jemanden dieses Wort laut aussprechen hören.
Sie spürt seine Erschrockenheit und hebt besorgt den Blick. «Ich habe falsch gemacht?»
Dr. Lucas Marinus , denkt Jacob, du sadistisches Ungeheuer. «Nein», sagt er.
Sie kehrt stirnrunzelnd zu der Textstelle zurück: «‹... um zu ertasten, ob die Plazenta am os uteri sitzt ... und wenn dies zutrifft ... habe ich Gewissheit, dass sie sich in jedem Fall von selbst ablösen wird ... Ich warte einige Zeit, und gewöhnlich setzen ... nach zehn, fünfzehn oder zwanzig Minuten die Nachgeburtswehen ein, ... wodurch die Plazenta Stück für Stück abgelöst und ausgestoßen wird ... Indem ich aber vorsichtig am Nabelstrang ziehe, rutscht sie hinunter in die ...›», sie blickt zu Jacob auf, «‹Vagina. Dort greife ich sie und ziehe sie durch das ... das os extemum.› So.» Sie blickt auf. «Ich zu Ende. Leber macht viel Schmerz?»
«Dr. Smellies Sprache», Jakob schluckt, «ist ziemlich ... direkt.»
Sie runzelt wieder die Stirn. «Niederländisch ist Fremdsprache. Wörter haben nicht gleiche Macht, Geruch, Blut. Geburtshilfe ist mein ...», sie runzelt die Stirn, «... ‹Beruf› oder ‹Berufung› - welches?»
«‹Berufung›, wage ich zu behaupten, Fräulein Aibagawa.»
«Geburtshilfe ist mein Berufung. Hebamme, die Blut fürchtet, ist nicht hilfreich.»
«Fingerendglied», ertönt Marinus’ Stimme, «Mittel- und Fingergrundglieder ...»
«Vor zwanzig Jahren», beginnt Jacob zu erzählen, «als meine Schwester geboren wurde, konnte die Hebamme die Blutungen meiner Mutter nicht stillen. Ich hatte die Aufgabe, in der Küche Wasser zu erhitzen.» Er fürchtet, sie zu langweilen, aber Fräulein Aibagawa hört ihm ruhig und aufmerksam zu. «Wenn ich es schaffe, genug Wasser heiß zu machen, dachte ich, bleibt meine Mutter am Leben. Ich habe mich leider geirrt.» Jetzt runzelt Jacob die Stirn, nicht wissend, warum er dieses persönliche Thema zur Sprache gebracht hat.
Eine große Wespe lässt sich am Fuß des Bettes nieder.
Fräulein Aibagawa zieht ein Stück Papier aus dem Ärmel ihres Kimonos. Jacob, der weiß, dass man in Asien an den Aufstieg der Seele von der Wanze bis zur Heiligengestalt glaubt, wartet darauf, dass sie die Wespe durch das große Fenster nach draußen scheucht. Stattdessen zerquetscht sie das Insekt mit dem Papier, knüllt es zu einer kleinen Kugel zusammen und wirft es mit vollendeter Zielsicherheit zum Fenster hinaus. «Ihre Schwester auch hat rote Haare und grüne Augen?»
«Ihr Haar ist sogar noch röter, zur großen Verlegenheit unseres Onkels.»
Das ist ein weiteres neues Wort für sie. «Ver-le-ben-heit?»
Vergiss nicht, Ogawa später nach dem japanischen Wort zu fragen, denkt er. «Verlegenheit,
Weitere Kostenlose Bücher