Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
oder Scham.»
«Warum Onkel empfindet Scham, weil Schwester rote Haare hat?»
«So sagt der Volksglaube - oder Aberglaube verstehen Sie?»
« Meishin auf Japanisch. Doktor nennt es ‹Feind von Vernunft›.»
«Also, dem Aberglauben nach haben Isebels - das heißt, sittenlose Frauen - das heißt, Prostituierte - rote Haare und werden auf Bildern auch so dargestellt.»
«‹Sittenlos›? ‹Prostituierte›? Wie ‹Kurtisane› und ‹Helfer einer Dirne›?»
«Bitte verzeihen Sie mir das.» Jacob bekommt heiße Ohren. «Jetzt bin ich in Verlegenheit.»
Ihr Lächeln ist Brennnessel und Ampfer zugleich. «Herr de Zoets Schwester ist ehrbares Mädchen?»
«Geertje ist eine ... sehr liebe Schwester; sie ist liebenswürdig, geduldig und klug.»
«Mittelhandknochen», demonstriert der Arzt, «und hier die tückischen Handwurzelknochen ...»
«Stammt Fräulein Aibagawa», wagt Jacob sich vor, «aus einer großen Familie?»
«Familie war groß, jetzt ist klein. Vater, Vaters neue Frau, Sohn von Vaters neuer Frau.» Sie zögert. «Mutter, Brüder und Schwestern gestorben, an Cholera. Viele Jahre her. Viele sterben damals. Nicht nur meine Familie. Viel, viel Leiden.»
«Aber Ihre Berufung - die Geburtshilfe, meine ich - ist eine ... Kunst des Lebens.»
Eine schwarze Haarsträhne ist aus ihrem Kopftuch entwischt: Jacob möchte sie besitzen.
«In alter Zeit», sagt Fräulein Aibagawa, «lange bevor es gab große Brücken über breite Flüsse, Reisende oft ertrunken. Die Leute sagten: ‹Sterben, weil Flussgott zornig.› Leute sagten nicht: ‹Sterben, weil große Brücken noch nicht erfunden.› Leute sagten nicht: ‹Leute sterben, weil wir zu viel Nichtwissen haben.› Aber eines Tages kluge Ahnen beobachten Spinnennetz und flechten Brücken aus Wein. Oder sehen Baum, gefallen über schnellen Fluss, und machen Steine-Inseln in breite Flüsse und gehen von Insel zu Insel. So sie bauen Brücken. Leute nicht mehr in gleiche gefährliche Flüsse ertrinken, oder viel weniger Leute. Sie bis hier mein schlechtes Niederländisch verstehen?»
«Einwandfrei», versichert Jacob. «Jedes Wort.»
«Heute, wenn in Japan Mutter oder Kind oder Mutter und Kind sterben bei Geburt, Leute sagen: ‹Ah ... sie sterben, weil Gott will.› Oder: ‹Sie sterben, weil schlechtes Karma.› Oder: ‹Sie sterben, weil o-mamori - Zauber aus Tempel - zu billig.› Herr de Zoet versteht, ist gleich wie Brücke. Wahrer Grund von viel, viel Tod ist Nichtwissen. Ich möchte Brücke bauen von Nichtwissen», sie formt mit den Händen eine Brücke, «zu Wissen. Eines Tages ich unterrichte dieses Wissen - mache Schule ... Studenten, unterrichten andere Studenten ... und in Zukunft viel weniger Mütter in Japan sterben an Nichtwissen.» Sie betrachtet kurz ihren Traum, dann schlägt sie die Augen nieder. «Ein dummer Plan.»
«Nein, nein! Ich kann mir keine edlere Aspiration vorstellen.»
«Verzeihung ...», sie runzelt die Stirn, «... was ist ‹edle Respiration›?»
« A spiration, Fräulein: Das soll heißen, ein Vorhaben. Ein Ziel im Leben.»
«Ah ...», ein weißer Schmetterling setzt sich auf ihre Hand, «... ein Ziel im Leben.»
Sie pustet ihn fort; er fliegt hinauf zu einem Wandbrett mit einer bronzefarbenen Kerze.
Der Schmetterling öffnet und schließt seine Flügel.
«Auf Japanisch», sagt sie, «heißt monshiro .»
«In Zeeland nennen wir ihn Kohlweißling. Mein Onkel ...»
«‹Das Leben ist kurz; lang ist die Kunst.›» Dr. Marinus betritt das Krankenzimmer wie ein hinkender, grauhaariger Komet. «‹Der günstige Augenblick ist flüchtig, die Erfahrung ...› Nun, Fräulein Aibagawa? Wie endet unser erster hippokratischer Aphorismus?»
«‹Die Erfahrung unsicher›», sie steht auf und verbeugt sich, «‹das Urteil schwierig.›»
«Allzu wahr.» Er winkt die anderen Studenten herein, die Jacob zum Teil aus dem Speicher Doorn kennt. «Domburger, das sind meine Famuli: Herr Muramoto aus Edo ...», der Älteste und Mürrischste verbeugt sich, «... Herr Kajiwaki, entsandt aus dem Lehen Hagi ...» Ein lächelnder Jüngling, dessen langer, schlaksiger Körper noch zu groß für ihn ist, verbeugt sich. «Dann haben wir Herrn Yano aus Osaka ...», Yano starrt fasziniert auf Jacobs grüne Augen, «... und zu guter Letzt Herr Ikematsu, ein Sohn Satsumas.» Ikematsu, durch frühkindliche Skrofulose entstellt, verbeugt sich heiter. «Famuli: Unser tapferer Domburger hier ist heute unser Freiwilliger; bitte begrüßen Sie
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