Die tausend Herbste des Jacob de Zoet
Shenandoah beladen ist: weshalb die Verzögerungen?»
«Flut hat gute Brücken in Stadt zerstört. Es gibt viel Verspätung heute.»
«Und warum», fragt Peter Fischer, «hat man die Verurteilten dann nicht früher hergebracht?»
Aber Dolmetscher Kobayashi hat sich schon wieder abgewendet und beobachtet das Geschehen auf dem für die Hinrichtung vorbereiteten Fahnenplatz. Dort hat sich die größte Menschenmenge versammelt, die Jacob bislang in Japan gesehen hat. Die Niederländer stehen halbkreisförmig mit dem Rücken zum Fahnenmast. Ein in den Staub gezeichnetes Rechteck markiert die Stelle, wo die Teekannendiebe enthauptet werden sollen. Gegenüber befindet sich unter einem Sonnenbaldachin eine dreistufige Tribüne: In der obersten Reihe sitzen Kammerherr Tomine und ein Dutzend hohe Beamte der Stadtregierung. Die Mittelreihe wird von weiteren Würdenträgern der Stadt Nagasaki eingenommen, und auf der untersten Stufe sitzen alle sechzehn vereidigten Dolmetscher, mit Ausnahme von Kobayashi, der an Vorstenboschs Seite seinen Dienst verrichtet. Ogawa Uzaemon, dem Jacob zuletzt im Badehaus begegnet ist, sieht müde aus. Drei Shintō-Priester in weißen Gewändern und mit verzierten Kopfbedeckungen vollziehen ein Reinigungsritual, indem sie Gesänge anstimmen und Salz werfen. Links und rechts von der Tribüne stehen Bedienstete, achtzig bis neunzig unvereidigte Dolmetscher, Kulis und Tagelöhner, froh, dem Spektakel auf Kosten der Kompanie beizuwohnen, sowie Wachen, Abgreifer, Ruderer und Zimmerleute. Bei einem Handwagen warten vier in Lumpen gehüllte Männer. Der Henker ist ein Samurai mit Adleraugen, sein Gehilfe hat eine Trommel. Dr. Marinus steht mit seinen vier männlichen Famuli am Rand.
Orito war nur ein Fieber , ermahnt sich Jacob. Jetzt ist das Fieber von mir gewichen.
«Im Vergleich dazu ist das Aufknüpfen in Antwerpen eine richtige Festveranstaltung», stellt Baert fest.
Kapitän Lacy blickt hinauf zur Fahne und denkt an Windverhältnisse und Gezeiten.
Vorstenbosch fragt: «Meinen Sie, wir benötigen später Schleppboote, Kapitän?»
Lacy schüttelt den Kopf. «Wenn der Wind sich hält, haben wir genug Schub.»
«Die Schlepperführer werden dennoch versuchen, ihre Taue festzumachen», warnt van Cleef.
«Dann haben diese Piraten einen Haufen gekappter Taue auszuwechseln, besonders wenn ...»
An der Landpforte macht sich Unruhe breit, das Stimmengemurmel wird lauter, und die Menschenmenge teilt sich.
Jeweils vier Männer tragen die Gefangenen in großen, aus Tauen geknüpften und an Stangen befestigten Netzen auf den Platz, präsentieren sie vor der Tribüne und werfen sie dann in das Rechteck. Dort öffnen sie die Netze. Der jüngere der beiden Gefangenen ist höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt - vor seiner Verhaftung war er vermutlich ein hübscher Junge. Sein älterer Komplize ist völlig gebrochen und zittert. Beide tragen nur einen langen Lendenschurz, ihre Körper sind über und über mit getrocknetem Blut, Striemen und offenen Wunden bedeckt. Manche ihrer Finger und Zehen sind nur noch schorfverkrustete braune Stummel. Wachtmeister Kosugi, der strenge Zeremonienmeister des grausigen Schauspiels, öffnet eine Schriftrolle. Die Menge verstummt, und Kosugi verliest einen japanischen Text.
«Es ist Verlesung von Anklagen», erklärt Kobayashi den Niederländern, «und Gestehnisse.»
Als Wachtmeister Kosugi fertig ist, geht er zum Sonnenbaldachin. Er verbeugt sich, und Kammerherr Tomine gibt eine Erklärung ab. Der Wachtmeister geht zu Unico Vorstenbosch, um ihm die Nachricht zu übermitteln. Kobayashis Übersetzung ist auffällig kurz: «Gewährt niederländischer Faktor Begnadigung?»
Vier- bis fünfhundert Augenpaare richten sich auf Unico Vorstenbosch.
Bitte, lass Gnade walten , fleht der künftige Stellvertreter de Zoet und schließt die Augen. Gnade. «Fragen Sie die Diebe», weist Vorstenbosch Kobayashi an, «ob sie gewusst haben, welche Strafe ihnen für dieses Verbrechen droht.»
Kobayashi richtet die Frage an die knienden Gefangenen.
Der ältere Dieb ist nicht in der Lage zu sprechen. Der jüngere sagt trotzig: «Hai.»
«Warum soll ich mich dann in die japanische Rechtsprechung einmischen? Die Antwort heißt nein!»
Kobayashi gibt die Entscheidung weiter an Wachtmeister Kosugi, der zurück zu Kammerherr Tomine geht. Als das Urteil gesprochen ist, drückt die Menge murrend ihr Missfallen aus. Der junge Dieb sagt etwas zu Vorstenbosch, und Kobayashi fragt: «Sie
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