Die Teeprinzessin
Frauen nun schwankten und so viel Wasser aus den Eimern verschütteten, dass es sich kaum noch lohnte, sie weiterzureichen. Der braune Qualm hatte inzwischen die Straße erreicht. Betty spürte einen Würgereiz und musste immer und immer wieder schlucken. Was würde mit Anton geschehen, der durch seine Nachlässigkeit eines der größten Teelager in Friesland zerstört hatte? Und war nicht auch sie, Betty Henningson, vierzehnjährige Tochter eines Silberschmiedes, mitschuldig an dem Brand? Betty hatte das Gefühl, dass die Gedanken in ihrem Kopf so stark brannten wie der Qualm in ihren Augen.
In diesem Moment taumelte eine alte Frau auf sie zu. Betty bedeutete der nach Luft ringenden Nachbarin Annamö, sich an den Rand der Gasse zu setzen und auszuruhen. Betty würde zusätzlich ihren Platz in der Kette einnehmen. Sie würde so hart arbeiten, wie sie nur konnte, um den Schaden wieder gutzumachen.
Der Morgen schritt weiter voran, so als trieben die von Hand zu Hand weitergereichten Eimer die Sonne immer höher in den freundlich glitzernden Himmel. Der braune Qualm stieg nun wieder in einer senkrechten Säule nach oben, glatt und gerade wie der Bambusstock eines aufgespannten blassblauen Sonnenschirms.
Schon war Bettys helles Kleid vom Qualm verdunkelt, der Schweiß rann ihr die Schläfen hinab. Als sie sich einmal ganz undamenhaft mit dem Handrücken über die Nase fuhr, stellte sie fest, dass ihr Gesicht schwarz sein musste. Viele der älteren Nachbarinnen hatten sich nun anstelle des Mithelfens aufs
Jammern verlegt. Manche riefen mit lauten Stimmen nach ihren Männern oder Söhnen. Sogar die alte Frau Hoffkötter rief nach ihrem Sohn, obwohl jeder wusste, dass er arbeitsscheu war und sich gewiss nicht beim Brand blicken lassen würde. Andere sahen immer und immer wieder besorgt zum Himmel hinauf. Würde der Wind nicht schon bald wieder aufwachen und das Feuer zu den Nachbarn hinüberwehen? Wen von ihnen würde er zuerst besuchen? Würde er aus Westen blasen wie meist im Mai? Oder würde er sich einen Spaß mit den Nachbarn machen und immer wieder seine Richtung wechseln? Betty empfand es fast als Hohn, dass ausgerechnet ihr Wohnhaus hinter der dicken südlichen Brandmauer nicht als gefährdet galt. Dennoch hatte Frau Pannfisch dicke nasse Decken auf die nördliche Dachseite legen lassen, die im glitzernden Mailicht ein wenig aussahen wie Felle.
Die anderen Nachbarn hatten mehr Angst. Aus dem Haus des Pastors Lippschitz an der Ostseite des Teehandelshauses wurden bereits Bettstellen und Kisten herausgetragen. Sogar die alte Mutter des Pastors, die nicht mehr laufen konnte, schaukelte hoch oben über den Schultern der Männer in ihrem Lehnstuhl thronend zum Tor hinaus.
Das Feuer indes brannte unverändert weiter. Die Wassereimer der Helfer und der schwache Wasserstrahl aus den Schläuchen der Feuerwehr schienen es gedeihlich am Leben zu halten. Es vergrößerte sich nicht, aber es zog sich auch nicht zurück. Die Flammen fraßen ruhig den Dachstuhl auf. Schon sperrte der Polizist Alkmaar, ein feister Holländer mit knarrender Stimme, den Bereich vor dem Giebel ab, weil dieser einzustürzen drohte.
Betty spürte die Schwielen an ihren Händen schon lange nicht mehr. Schwarzes Blut klebte zwischen ihren Fingern. Sie ließ sich die schwappenden Eimer reichen, packte die Holzrolle
des Griffes und reichte die Eimer weiter. Sie hatte schon lange nicht mehr die Kraft, den Kopf zu heben und nach ih rem Vater oder nach Anton Ausschau zu halten. Einmal glaubte sie zu sehen, wie der Vater die Leiter hinabkletterte und sich, am Boden angelangt, auf die Schulter des Kontormeisters Toff stützte. Rauchschwaden drückten sich durch die Gasse, das Bild verschwamm vor ihren Augen. Als sie kurz darauf erneut aufblickte, schwankte Berthold Henningson bereits wieder oben über den Zinnen auf der Leiter.
Betty musste immer und immer wieder schlucken, um das würgende Gefühl aus der Kehle zu verbannen. Vor ihr und hinter ihr wechselten die Mitglieder der Löschkette, kurz hintereinander brachen zwei der Cousinen von Lehrer Jansen zusammen und wurden kurzerhand auf die henningsonsche Bleichwiese gelegt, wo sie sich nicht mehr rührten, auch nicht als Kater Poffmanntje um ihre Fußsohlen strich. Einmal sah Betty zu ihnen hinüber, da klapperten die Lider der einen Cousine und die andere schimpfte und hustete gleichzeitig vor sich hin. Dann rafften sich beide plötzlich auf und verschwanden einträchtig und still durch die hintere
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