Die Teeprinzessin
ich es sogar selbst war?« Betty spürte selbst, dass sie zu weit gegangen war.
Aber der Vater schüttelte nur erschöpft den Kopf. Die lange Rede hatte ihn so angestrengt, dass sich feine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet hatten.
Betty fühlte sich wie versteinert. Der metallische Staub, der über der Silberwerkstatt lag, brannte in ihren Augen. Draußen war ein strahlender Spätsommertag heraufgezogen. Vor dem Fenster jagten sich zwei Stare. Die Kapuzinerkresse blühte in den Beeten. Trude schleppte eben einen Korb mit Weißwäsche zur Bleiche. Betty glaubte, die Frische der noch heißen Wäsche und die an der Sonne verdunstenden Laugenreste bis hierher riechen zu können. Die Zimmertür öffnete sich, und Frau Pannfisch erschien, um dem Vater kalten Pfefferminztee zu bringen. Die Tasse klirrte auf dem Untersetzer. Sie murmelte etwas, das wie ein Morgengruß klang, wich aber Bettys Blick aus.
War nicht alles fast so, wie es immer gewesen war? War denn so viel geschehen? Und konnte man es nicht rückgängig oder wenigstens vergessen machen? Betty schlang die Hände ineinander.
Sie hoffte, dass ein Wunder geschehen würde, aber sie wusste doch, der letzte Tag ihrer Kindheit war vergangen, und was die Zukunft bringen würde, war noch völlig ungewiss.
5
Am Tag von Bettys Abreise war in der schmalen Gasse vor ihrem Elternhaus verdächtig viel los, obwohl kein Markttag war. Gustl Plumboom stand hinter einem der Wirthausfenster und ordnete mit großer Ausdauer die roten und gelben Blüten einer Topfpflanze, obwohl sie doch wissen musste, dass man die »Fette Henne« nicht anfassen sollte. Dazu schien sie aus einem Messingkännchen mehr und mehr Wasser in den Blumentopf zu gießen.
Mehrere Mägde der umliegenden Kaufmannshäuser standen mit ihren leeren Körben im Arm beieinander und tuschelten. Betty erkannte sogar Benjamina, die erste Magd von Frau von Mux. Stand dort, fast hinter den anderen verborgen, nicht auch Trude? Trotz der frühen Stunde führte die Frau des Kapitäns Schwach ihre Schwiegermutter am Arm durch die kleine Straße, und sogar die beiden graugesichtigen Töchter des Teehändlers Burg-Lebenzell nutzten das schöne Wetter zu einem Morgenspaziergang. Betty entdeckte die Frau des Lehrers Jansen, die augenscheinlich in ein Gespräch mit der Frau des Polizisten Alkmaar verstrickt war, die eng geschnürten Schwiegertöchter Nevermann und Pollmann in ihren neuen Frühlingskleidern und sogar die alte Frau Hoffkötter, die einander zu dieser Stunde offenbar alle rein zufällig getroffen hatten und sich nun emsig in Gespräche vertieften. Nur von Elkhuber war nichts zu sehen, stellte Betty mit Erleichterung fest.
Betty trug das grüne Reisekostüm, das sie mithilfe von Frau Pannfisch aus einem alten Kleid ihrer Mutter geändert hatte. Es war in der Taille nach der damaligen Mode nicht sehr eng getragen worden, und es passte Betty, die viel kräftiger zu sein schien als ihre verstorbene Mutter und sich noch nicht mit einem engen Korsett schnüren mochte, recht gut. Zwar war es nicht sehr nach der heutigen Mode, und der noppige Stoff mit dem Fellfutter war für einen Frühlingstag wie diesen zu warm, aber das war Betty gleichgültig. Sie fror trotz der warmen Witterung. Zudem wurde Frau Pannfisch nicht müde zu betonen, wie kalt es in Hamburg werden könne und wie wichtig es für eine junge Dame sei, komplett eingekleidet zu sein.
Viel Gepäck war es nicht, mit dem sie reisen würden. Zwar stand auf dem Dachboden noch großes Schrankgepäck, in dem man eine komplette Garderobe hätte unterbringen können, aber Betty besaß überhaupt nicht genug Kleidung, um den riesigen Koffer und seine vielen Schubladen damit füllen zu können. So packte sie nur eine kleine braune Reisetasche, deren silberne Verschlüsse in der Form zweier einander umschlingender Schwäne der Vater selbst geschmiedet hatte.
Das helle Kleid, das sie bei den Löscharbeiten getragen hatte, war zwar nun wieder sauber, aber es sah doch recht verschossen aus und taugte nicht zu mehr als zu einem Putzlumpen. Betty schenkte es Trude, die es überglücklich in Empfang nahm und stolz in Bettys Zimmer stehen blieb.
Betty beachtete die junge Magd fast gar nicht. Sie faltete ihr blaues Sonntagskleid und ein halbes Dutzend dünner Hemdchen. Letztlich passte der Inhalt ihrer Kommode fast vollständig in die kleine Tasche. Die beiden in Saffianleder gebundenen Tagebücher wollte sie ebenfalls zurücklassen. Wozu brauchte sie sie noch? Ihr
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