Die Teeprinzessin
nehmen. Und beim Umsteigen in Hannover nicht in der Bahnhofswirtschaft essen, dort sei es teuer.
Im Bahnhofsgebäude von Hannover lärmte eine große Reisegesellschaft an einer langen Tafel. Betty folgte Frau Pannfisch in den Wartesaal dritter Klasse und setzte sich unsicher auf eine der Bänke. Frau Pannfisch indes schien vor Angst fast zu vergehen. Sie knetete ihr Taschentuch und presste die Lippen fest aufeinander. Sie konnte nur noch abgehackt sprechen. Als endlich die Lokomotive mit dem Zug nach Harburg in den Bahnhof hineinschnaufte, schien sich ihre Angst fast noch zu steigern. Frau Pannfisch beobachtete vornehmlich den beißenden Qualm, der an ihrem Fenster entlangschwärte, und zog daraus ihre Schlüsse. Wurde er nicht dünner? Dunkler? Heller? Biss er nicht jetzt weniger in den Augen? Oder mehr? Nahm die Zugluft zu? Hatte der Schaffner die Tür des Wagens auch gut mit dem großen Schlüssel verschlossen? Oder konnte die Tür vielleicht aufspringen und es Frau Pannfisch einfach hinausziehen?
Betty hörte die Litanei der alten Frau kaum. Sie blickte aus
dem Fenster auf die dahineilende Landschaft. War es möglich, dass sich in die Trauer über den Abschied von Zuhause auch ein Hauch von Neugierde mischte auf das, was kam? Freute sie sich nicht sogar auf die große Stadt? Wann würde sie Anton wiedersehen? Wäre sie ihm noch böse? Betty spürte selbst, dass sie lächelte. Sie setzte sich ein Stück gerader hin. Sofort drehte Frau Pannfisch den Kopf und sah sie erschrocken an.
Winzige Landarbeiterhäuschen schossen an ihnen vorbei. Auf einem Feld verharrte eine ganze Gruppe von Arbeitern und folgte dem Anblick des Zuges mit in die Seiten gestemmten Händen. Ein Junge trieb eine Schafsherde vor sich her. Jemand hatte große Wäschestücke auf eine Bleiche gelegt. Das war immerhin genauso wie zu Hause, dachte Betty und spürte einen Kloß im Hals. Bevor sie durch Dörfer jagten, hörte man schon die Signalglocken. Schrankenwärter standen an den Handkurbeln, mit denen sie die Schranken hinuntergelassen hatten. Manchmal sah man auch den Gehilfen, der die Glocke schlug. Als sie weiter nach Osten kamen, erblickte Betty Schornsteine, die schwarzen Qualm in die Luft hinaufbliesen. Die Landschaft wurde hügeliger. Und roch es hier nicht auch anders als zu Hause? Betty schluckte. Das Kribbeln in ihrem Bauch kam nicht von der Geschwindigkeit des Zuges und auch nicht vom Hunger. Etwas Neues in ihrem Leben hatte begonnen.
ZWEITES BUCH
Die Stunde des Mars
Die Fremde in der Stadt
Hansestadt Hamburg,
Dienstag, den 18. März 1859, später Abend, bis Sonntag,
30. August 1859, später Nachmittag.
1
Betty wäre am liebsten auf dem Fleck stehen geblieben und hätte sich stundenlang nur umgeschaut. Es war ein später Frühlingsabend und zu warm für die Jahreszeit. Hunderte und Aberhunderte von Menschen wogten an der Anlegestelle hin und her, zogen Handkarren, schleppten Gepäck, Eimer und Kisten, riefen einander etwas zu, bestiegen Kutschen. Andere kämpften sich zu Fuß eine steile Straße hinauf, an deren höchstem Punkt offenbar eines der Stadttore war.
Betty sah zerlumpte Kinder und Männer mit hölzernen Krücken, Händler mit Bauchläden, die duftende kleine Brote anboten, Schnürsenkel verkaufen wollten oder ein Wundermittel gegen die Schwindsucht anpriesen. Pferde scharrten in ihren Geschirren, ein Ochse zog einen Karren mit Möbeln, der warme Fluss verströmte den Geruch von Fisch und Fäulnis.
Seit sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, hatte sich sogar Frau Pannfisch etwas beruhigt. Sie hatten lange warten müssen, bis endlich die Dampffähre gefahren war. Der
Fluss, so hieß es, war weder bei ablaufendem noch bei auflaufendem Wasser gut querbar, sondern bei einem hohen Wasserstand wie dem heutigen nur in der Zeit des Tidenstillstands dazwischen. Jetzt waren mehr als hundert Menschen zugleich an der Anlegestelle beim Jonas unter dem Hamburger Berg angekommen. Betty wunderte sich, dass sie im dänischen Altona anlegten und nicht in Hamburg. Aber eine junge Frau auf der Fähre hatte ihr erklärt, dass ein Dampfschiff schließlich gefährlich sei und dass man ja nun nicht den ganzen Hafen anstecken müsste, wenn es vielleicht explodierte. Immerhin sei der große Hamburger Brand ja nicht so lange her. Ihre Mutter habe ihn als junges Mädchen noch miterlebt.
Frau Pannfisch verzog das Gesicht. Betty solle nicht mit Fremden reden. Sie hielt sich krampfhaft am Geländer der dahinstampfenden Fähre fest
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