Die Teeprinzessin
Frau Remburg«, erklärte Anton. »Sie ist eigentlich ganz nett. Und ihre beiden Töchter erst...«, er verzog das Gesicht und lachte.
Betty fiel in sein Lachen ein. Ein wenig hatte sie erwartet, dass er sie den Remburgs vorstellen würde, und war nun enttäuscht, dass er das offenbar nicht vorhatte. Andererseits wollte sie in diesem Aufzug nicht gern vor die strengen Augen eines Kleeblattes begüterter Mütter treten. Also nickte sie einfach und wendete sich ab.
»Das war ein Mädchen aus meiner Heimatstadt«, rief Anton quer über die Wiese. »Ich kannte sie früher flüchtig!«
Am liebsten hätte Betty mit einem Stein nach ihm geworfen. Aber hier gab es keine Steine. Hier wuchsen betörend schöne Blumen in gerade abgesteckten Rabatten. Und wenn es Steine gegeben hätte, dann hätte sie sie durch den Tränenschleier nicht erkennen können.
Ein wenig unsicher fühlte Betty sich schon, als sie sich kurze Zeit später auf den Weg zu der angegebenen Adresse machte. War dort etwa ein weiteres Haus der Remburgs? Je näher sie ihrem Ziel kam, desto mehr zweifelte sie daran. Die Straßen wurden immer enger und enger. Zwischen den Häusern lag Unrat. In den Gossen hockten kleine Kinder ohne Hosen und spielten mit Holzstücken, die sie in der stinkenden Brühe treiben ließen. Was wollte jemand wie Anton hier? In seinen feinen neuen Kleidern passte er nun wirklich nicht in eine Gegend wie diese. Da fiel sie selbst schon weniger auf. Tatsächlich nahm kaum jemand von ihr Notiz, und auch die jungen Arbeiterinnen, die sie nach dem Weg fragte, gaben ihr schlicht Auskunft, ohne sie anzustarren.
Zu dem großen grauen Wohnhaus führten drei Stufen hinauf, damit hob es sich immerhin von den anderen schiefen und ebenerdigen Häusern der Straße ab. Eine Türglocke gab es hier unten nicht. Wer hätte auch auf ein Läuten hin öffnen sollen? Sehr viel Hauspersonal hatten die Menschen hier sicherlich nicht. Eher arbeiteten sie selbst bei den feineren Leuten in der Stadt.
Bettys Herz klopfte bis zum Halse, als sie endlich die drei Stufen hinaufgestiegen war und an der Wohnungstür geläutet hatte. Im Inneren der Wohnung rief eine Männerstimme: »Nur herein! Bei Ismael Aberdira sind Tor und Tür stets für alle offen!«
Betty drückte vorsichtig die Tür auf. Tatsächlich schwang sie geräuschlos nach innen. Es war falsch, in eine fremde Wohnung zu gehen. Es war unschicklich, einen Mann zu besuchen. Er war nicht richtig, sich an einen Ort zu begeben, den man nicht einmal kannte! Im Flur war es dämmrig. Seltsamerweise roch es nach einem guten Rosenöl. Und es roch sauber.
Sie hörte die Stimme des Mannes ein weiteres Mal, bevor sie ihn sah. Er saß in einem mit goldenem Brokat bezogenen Sessel und hob eine Hand zum Gruße. So einen Mann hatte Betty noch niemals zuvor gesehen. Er trug einen gelben Seiden anzug und darüber einen leuchtend blauen Kaftan, der vorn von einem schweren Gürtel mit Silberschließe gehalten wurde. »Betty! Nicht wahr? Willkommen, kleine süße Betty aus Emden!«, rief er. »Ich bin Ismael Aberdira!«
Betty zuckte zusammen. War sie noch Herrin ihrer Sinne? Woher konnte dieser Mann wissen, wer sie war? Es war sicherlich besser, wenn sie jetzt das Weite suchte! Sie drehte sich um.
»Halt! Nicht weglaufen! Bestimmt kommt Anton auch gleich, um mit seiner alten Freundin ein Wiedersehen zu feiern. Sie sind es doch, nicht wahr?«
Betty nickte benommen.
Der Mann wies auf einen der kleinen goldenen Hocker und bedeutete Betty, sich hinzusetzen. Dann stand er selbst auf und umrundete sie wie ein Kunstwerk, das er betrachtete. »Herr des Lichtes!«, rief er. »Diese Nasenlinie! Und die kleinen ro ten Lippen. Wie glühende Herzchen. Recht possierlich würde ich sagen, wenn man Frauenzimmer mag!« Er lachte abermals. »Kein Grund zum Erschrecken, kleine Betty. Ich habe Fotografien von Ihnen gesehen, mein Kind. Sie waren Antons liebstes Motiv. Anton hat mir alles gezeigt. Und alles erzählt. Ich kenne Sie, als ob ich selbst meine Kindheit im muffigen Teehandelshaus
der Asmussens verbrachte hätte und als ob Sie mich immer angepflaumt hätten, wenn ich Sie auf die knarrende Treppenstufe hinter dem Zwischenboden aufmerksam gemacht hätte.« Er lächelte.
»Und wer sind Sie?« Betty erwiderte den Blick des Mannes nicht, glaubte aber nicht mehr, dass er ihr irgendwie zu nahe treten könnte.
Ismael Aberdira lächelte. »Ach, wer ich bin, das muss ich noch herausfinden. Ich bin ein Reisender auf dem Lebens weg.
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