Die Teeprinzessin
Strumpfband riss, gleich darauf auch das zweite. Der bodenlange Rock ihrer Dienstbotentracht und der grobe Unterrock hinderten sie daran, sich auf dem glatten Rand der Tonne bis auf die Füße hochzuziehen. Betty sprang auf den Boden zurück und zog den Saum ihres Gewandes hoch, dann stopfte sie ihn sich in den Taillenbund. Kühle Luft strich über ihre bloßen Beine mit den nun bis zu den Knöcheln heruntergerutschten Strümpfen. Ohne den störenden weiten Rock war das Klettern leichter. Niemand sah sie hier. Sie würde das Gewand sofort wieder richten können.
Wie Betty es vermutet hatte, war die Staubtür nur leicht angelehnt. Sie konnte sie nach innen drücken und gleich darauf hinter sich wieder zuklappen. Alles war nicht ganz so schwer wie befürchtet. Einen Moment später stand Betty schwer atmend in der Diele. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Schnell die Rocksäume wieder herunterlassen, nur ein Sprung zur Dienstbotentreppe. Der Moment reichte sogar, um die Spange mit dem blauen Stein kurz in eine Hand zu nehmen. Es waren nur Augenblicke.
»Da ist ja das Tierchen. Und so feine nackte Beine hat es. Da muss es sich doch nicht erschrecken. Es hat die Beine doch
selbst entblößt!« Theodors Stimme war heiser vor Erregung. Er streckte eine Hand aus und berührte die Haut an Bettys Oberschenkel. Mit der anderen Hand versuchte er, ihre Taille zu umfassen und sie an sich zu ziehen.
Betty unterdrückte einen Schrei. Theodor Tollhoffs Gesicht mit den blauen, leicht hervortretenden Augen war dem ihren ganz nahe.
»Nun soll das Tierchen sich doch nicht so wehren. Wie wäre es, wenn wir beide schnell dahin zurückklettern, woher das Tierchen gekommen ist?« Seine Hand glitt zu ihrem Innenschenkel. »Auf dem Hof ist es fein dunkel. Und wer weiß, ob nicht das Tierchen eben von einer ähnlichen Verrichtung kommt?«
Sie spürte den süßlichen Atem von Alkohol in ihrem Gesicht und versuchte, sich unter Tollhoffs Griff zu drehen. Die Spange in ihrer Hand! Die Nadel war spitz wie ein Dolch. Wie öffnete man sie? Schon fühlte sie den Schaft der Nadel zwischen ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, die Nadel weiter hinten anzufassen. Dann gab sie ihren Widerstand für einen Wimpernschlag lang auf, sah den erfreuten Gesichtsausdruck in Theodors feisten Zügen, holte aus und hieb ihm die Nadel von hinten in den Hals.
Theodor trug einen feinen Abendanzug mit gestärkten Kragen. Betty flehte zu einer höheren Macht, dass die Wucht des Stiches nicht von der Manschette abgefangen werden würde. Oder war der Hieb gar ins Leere gegangen? Viel Widerstand jedenfalls schien ihm Theodors weicher Körper nicht entgegenzusetzen. Sein Mund öffnete sich erst zu einem Schrei, als Betty die vom Blut klebrige Nadel bereits wieder herausgezogen hatte. Theodor schrie wie ein Tier im Todeskampf.
Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann jedoch flog die Tür zum Salon auf und Heinrich Remburg stürzte in die Diele:
»Was zum Teufel...« Der Rest seiner Verwünschung schien ihm im Halse stecken geblieben zu sein. »Herr Tollhoff. Ich habe Sie nicht des Hauses verwiesen, damit Sie hier mein Personal angehen. Bitte verlassen Sie uns auf der Stelle! Jobs! Die Haustür, bitte!«
Betty starrte in Richtung des Salons, dessen beide Flügeltüren sich jetzt geöffnet hatten. Mehr und mehr Herren in dunklen Anzügen und mit hohen Kragen erschienen in der Diele, hochroten Kopfes die meisten. Ob das vom Alkohol herrührte, von den Diskussionen oder von dem, was sie gerade sahen, war nicht auszumachen. Auch Anton war da. Drehte er etwa die Augen zum Himmel? Betty nahm alles wahr wie ein großes Bild. In dessen Mitte aber stand John Francis Jocelyn und starrte sie an wie eine Erscheinung.
Theodor hatte sie unterdessen losgelassen. Er grinste schief. »Wenn ich vielleicht einem der Herren zuvorgekommen bin, so tut mir das zumindest leid. Aber ich denke, ein Frauenzimmer wie dieses hier hat uns vielleicht allen etwas zu bieten!«
Etwas sirrte in der Luft. Betty sah den Säbel, den Francis gezogen hatte und der jetzt in der Luft blitzte. Und für einen winzigen Moment sah sie seine Augen, die sie als ganze Person zu ergründen schienen. Den Rocksaum, der immer noch in ihrem Taillenbund steckte, die bloßen Beine, die heruntergerutschten Stümpfe, das verschmierte Blut in ihrer erhobenen Hand. War da Überraschung in seinem Blick? Ein Hauch von Unverständnis? Einige der Männer raunten, andere drehten sich beschämt zur Seite oder sie kehrten
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