Die Teeprinzessin
Tuch geschmückt, der schwere Brokatmantel, den er trug, hätte auch bei eisiger Kälte gewärmt. Betty studierte seinen Aufzug aufmerksam, ohne sich Gedanken über ihr eigenes schmutzverschmiertes Gesicht oder den zerlumpt wirkenden Rock zu machen. Jedes Detail war interessant. Es lenkte sie ab.
Ismael Aberdira starrte zurück, als ob er sie nicht erkannte. Doch dann fasste er sich endlich. »Das schöne Kind aus Emden. Und von allen Seiten derangiert. Aber nicht einem Manne zu willen gewesen, das sieht ein Blinder, denn der Blick ist noch ungebrochen. Die Lippen wie samtige Blumen. Die Nasenlinie so fein wie je. Kommen Sie herein, wenn es nicht anders geht!« Er stieß die Tür weiter auf und schlurfte in seinen gelben Seidenpantoffeln voran.
In dem großen Raum, in dem sie damals gesessen und auf
Anton gewartet hatte, brannten Kerzenstümpfe in zwei einzelnen Leuchtern. Das flackernde Licht schien hier alles in Bewegung zu versetzen - die langen braunen Samtportieren, die Tücher und Hussen, mit denen einige der Sessel verhüllt waren. Sah es nur so aus oder waren auch einige der Möbel in einer Ecke des Zimmers zusammengerückt? »Abgereist und doch nicht abgereist. Das ist ein Zustand!«, murmelte Aberdira, der ihrem Blick gefolgt war, und sank auf seinen thronartigen Stuhl, während Betty, wie schon das vorige Mal, auf dem goldenen Hocker Platz nehmen sollte.
Er bot ihr von einem Tellerchen an, auf dem einige schneeweiße Konfektstücke lagen, und beobachtete, wie sie sich zuerst eines und dann alle weiteren in den Mund stopfte. »Jedes Mal wenn Sie hierherkommen, sehen Sie aus, als ob Sie einen Cognac bräuchten. Aber ich fürchte, Sie sind immer noch zu jung dafür. Sie sind beinahe sechzehn, nicht wahr? Alt genug, um sich in einer dunklen Ecke die Röcke hochschieben zu lassen.« Er lachte bitter. »Und jung genug, damit es einer versucht.« Er hob die Hand, um ihren Protest abzuwehren, aber Betty wehrte sich überhaupt nicht. Sie kaute das feste weiße Backwerk und dachte, dass es am besten sei, an nichts zu denken. Wie sah das Muster auf dem Kerzenleuchter aus? War das ein Ornament aus Schlangenlinien? Oder Blumen?
Aberdira lehnte sich seufzend zurück. »Ich sehe schon, es ist schlimmer, viel schlimmer, als das schöne Kind sich das Leben vorgestellt hat. Tun Sie mir bitte einen Gefallen? Können Sie mir bitte sagen, was Sie von mir wollen? Aber bitte in einem Satz, nicht mehr, verstanden. Ismael Aberdira ist ein alter Mann. Sein Leben ist zu kurz, um sich die Träumereien junger Frauen anzuhören. Warum sind Sie hier?«
Betty schluckte mit den letzten Konfektkrümeln die ers ten Tränen hinunter. »Ich weiß es nicht!« Sie atmete stockend
durch die Nase ein, aber die Tränen flossen mehr und mehr, fast war es schon wie ein Strom. »Es ist alles aus!«
Aberdira nickte. »Welch interessante Erkenntnis. Aber wenn ich noch einmal auf meine Frage zurückkommen darf, die Kirchturmuhr hat elf geschlagen, was wollen Sie hier?«
Betty zuckte die Schultern und ein Schluchzen ließ sie beben.
»Keine Details, bitte!« Aberdira nahm den leeren Konfektteller zur Hand, blickte darauf, so als ob aus dem Muster des feinen Porzellans noch weitere Plätzchen hervorwachsen könnten, und stellte das Tellerchen dann mit einem Seufzer wieder auf den kleinen Tisch. »Wenn Sie das nächste Mal hier auftauchen und keinen Cognac gegen Ihren aufgebrachten Zustand trinken möchten, dann bitte ich Sie, vorher eine Botschaft zu senden, damit ich mich mit Konfekt eindecken kann. Das hier ist eine Köstlichkeit von hohem ästhetischem Gehalt. Es soll aus Japan sein, das hat mir der Konditor gesagt. Japan öffnet sich jetzt für Fremde. Aber es ist kein Brot . Und man schlingt es auch nicht so in sich hinein wie Brot. Man knabbert es auf das Zierlichste!«
»Ach so.« Betty nickte. Sie hatte nicht zugehört.
Aberdira grunzte. »Meinetwegen. Sie können hierbleiben. Sie sehen nicht so aus, als ob Sie auf anständige Art und Weise noch anderswo hingehen könnten. Hinter der Küche ist eine Kammer. Da wohnen Sie. Es ist nicht für lange. Ich plane eine Expedition nach Japan, aber das wird noch einige Wochen, vielleicht sogar Monate in Anspruch nehmen. Bis dahin können Sie hier den Haushalt verrichten.«
Betty konnte sich schon seit Minuten nicht mehr auf sein Gesicht im flackernden Kerzenlicht konzentrieren. Mit jedem Atemzug schien sie mehr Müdigkeit in sich aufzunehmen, bis sie nur noch den ihr zugewiesenen Weg zur Küche
Weitere Kostenlose Bücher