Die Teeprinzessin
entlangtaumelte
und in der Mädchenkammer auf einen sauberen, aber steinharten Strohsack sank. Dort schlief sie wie eine Tote.
In ihrem früheren Leben in der Heimat war es stets so gewesen, dass am Morgen ein Teil aller dunklen Sorgen verschwunden war, so als habe die Nacht sie aufgesogen. An diesem kühlen Oktobermorgen jedoch war es anders. Sie wachte davon auf, dass ihre Knöchel schmerzten, und stellte fest, dass es die Kälte war, die an ihr nagte. Sie lag so auf dem Strohsack, wie sie eingeschlafen war, eine Decke gab es nicht oder zumindest hatte Aberdira es nicht für nötig befunden, ihr eine solche auszuhändigen. Jetzt, im fahlen Licht des grauenden Morgens, konnte sie sehen, dass der Saum ihres Rockes zerrissen war. Dort, wo die weiße Bluse das Wappen derer von Remburg trug, prangte nun eine braun getrocknete Blutschliere, wie ein Regenwurm. Bei den Remburgs hatte sie immerhin noch einen Kamm besessen. Nun aber musste sie die wirren langen Locken mit den Händen ordnen und mit den zwei Haarspangen feststecken, die ihr noch geblieben waren.
Ismael Aberdira rumorte in der angrenzenden Küche, dann machte er einen Schritt in Richtung Bettys Kammer, hielt den Blick aber gesenkt, so als sei ihr Anblick ihm peinlich. »Guten Morgen! Ich erwarte, dass die Wohnung sauber ist, wenn ich wiederkomme. Wenn du etwas essen musst: Es liegt noch Brot im Kasten! Was du hier zu tun hast, ergibt sich von selbst. Wie lange du bleiben kannst und ob ich dir Lohn geben kann, muss ich später entscheiden.«
So müde und zerschlagen sie sich auch fühlte, Betty spürte sofort, was er ausdrücken wollte. Er war vom »Sie« zu dem herablassenden »Du« gewechselt, mit dem man Dienstboten herumkommandierte. Sie war hier nicht länger Gast und Freundin seines geschätzten Freundes Anton. Sie hatte sich über Nacht von einem traurigen Schmetterling in eine graue Raupe zurückverwandelt,
die das Tageslicht zu scheuen hatte. Ihre Orte waren Küche und Keller. Fast erleichterte es Betty, dass sie nun auch in den Augen Aberdiras die unterste Gesellschaftsschicht erreicht hatte. Es nahm die Last von ihr, hübsch und ordentlich aussehen zu müssen, und die schwere Bürde der Schicklichkeit nahm es ihr noch dazu. Niemanden würde es jemals wieder interessieren, was sie tat und in welchem Aufzug sie sich präsentierte. Es war ohne Betracht, was sie künftig tat, solange sie ihre Fron erfüllte. Betty nickte folgsam. Dann raffte sie sich auf und suchte in der Küche nach einem Besen.
Es dauerte fast zwei Wochen, bis sie Anton wiedersah. Er kam spätabends und stöhnte schon an der Tür, dass er sich seit Tagen nicht hatte freimachen können. Offenbar schneite es drau ßen. Winzige Schneeflocken von der Art, wie sie nur bei großer Kälte fallen, lagen auf den Schultern seines schwarzen Tuchmantels. Unter dem Arm trug er ein seltsames kleines Holzkästchen, das er auch eisern festhielt, nachdem er schon seinen Mantel abgelegt hatte. War es das Kästchen, das diesen eigenartigen, selbst für Betty kaum noch wahrnehmbaren Duft verströmte? Was war das? Vielleicht das Holz, aus dem das Kästchen gemacht war?
Er warf ihr den Mantel über den Arm und reichte ihr seinen Hut, so als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie nun hier arbeitete. Fast hätte Betty geknickst. Dabei hätte sie Anton so gern gefragt, was an dem Abend vor zwei Wochen weiter geschehen war. Hatte man ihr Fortlaufen überhaupt bemerkt? Hatte es wegen des Übergriffs von Theodor Tollhoff einen kleinen Skandal gegeben? Suchte man sie gar? Oder war man einfach zur Tagesordnung übergegangen? Noch wichtiger aber war ihr eine andere Frage. Wie hatte Jocelyn sich verhalten? Was hatte er gesagt? Und: Wie hatte er geschaut?
Sie musste sich an einer hohen Truhe festhalten, um nicht zu taumeln. Warum nur konnte sie nicht wenigstens ihre Gedanken kontrollieren? Sie musste Francis vergessen, so wie er sie sicherlich vergessen hatte, das war alles. Aber die Wahrheit hätte sie doch vorher noch gern erfahren.
Sie wollte gerade den Mund aufmachen und Anton mit einem Schwall von Fragen überschütten, als Ismael Aberdira warnend die Hand hob. Zu ihrem eigenen Erstaunen blieben die Worte ihr in der Kehle stecken. Sie sank in sich zusammen.
»Wir nehmen Tee«, zischte Aberdira. »Recht gern etwas heißer als gestern. Und möchten dann nicht mehr gestört werden.« Er komplimentierte Anton in seinen Salon. Bevor Aberdira die Tür ganz schloss, erhob Anton noch einmal
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