Die Teeprinzessin
die Stimme. Er meinte sie, Betty. Er sagte etwas zu ihr. Dabei hatte er es offenbar nicht nötig, sich noch einmal zu ihr umzudrehen oder sie anzuschauen, es genügte wohl, dass er seiner Stimme einen weniger privaten Klang gab, während er in den Salon ging und sich dort in einen der Sessel fallen ließ. Betty sah noch, dass er das Holzkästchen wie eine Reliquie auf dem Schoß hielt. »Vielleicht brauche ich später noch einmal deine Hilfe, Betty. Danke.« Machte er eine wegwischende Bewegung zu ihr? Oder hatte er wirklich eine Fliege verscheucht? Aber wo sollte die herkommen, jetzt im November, in einem Haushalt wie dem von Aberdira, in dem eine Fliege bestimmt verhungern würde?
Betty schüttelte stumm den Kopf, während sich die Tür vor ihren Augen schloss. Sie konnte nicht aufbegehren. Der Hunger und die schwere Arbeit hatten sie blass und müde gemacht.
Sie musste eingeschlafen sein. Der derbe Bezug des Strohsackes unter ihrer Wange war nass. Draußen schneite es immer noch, das spürte man sogar in dieser kalten Kammer, denn
von der Straße kam kein Laut mehr, alles war vom Schnee gedämpft.
»Betty!« Antons Stimme war fordernd und grell zugleich.
Betty rappelte sich hoch, strich die Röcke glatt und wankte in den Salon. Die Tür knarrte. Immerhin verzichteten die Männer darauf, ihr Äußeres zu kommentieren.
Anton und Aberdira saßen an dem kleinen goldenen Tischchen und hatten mehrere Leuchter auf etwas gerichtet, das sich in der Tischmitte befand. Betty roch den Duft und dachte zunächst, es sei eine Blume. Doch im November blühten in Hamburg nicht einmal mehr die Geschäfte. Das kleine Holzkästchen stand nun offen. Anton sah flüchtig zu ihr hoch. »Ich hatte es für einen Assam gehalten, die Blätter sind attractive und sehr flowery, aber Aberdira hat recht...« Anton schluckte verzweifelt, »so einen Assam habe wir hier noch nie gesehen.« Er verzog das Gesicht. »Und er riecht auch ganz anders!«
Betty war langsam näher gekommen. Das Kerzenlicht über dem Holzkästchen flackerte. Die besondere Sprache der Teehändler hatte sie seit langer Zeit nicht mehr gehört. Früher hatte Anton diese besondere Sprache nicht interessiert. Jetzt aber kamen ihm Bezeichnungen wie »attractive« für ein besonders schön geformtes Teeblatt oder »flowery« für diesen zarten blumigen Hauch ganz leicht über die Lippen. Hatte er vielleicht tatsächlich begonnen, sich für das Teegeschäft zu begeistern? Betty kräuselte die Nase. Sie roch den Tee bis hierher.
»Ach, verflucht!« Anton gab dem kleinen Kästchen einen Stoß. »Ich bekomme es nicht heraus. Niemand kann das. Vielleicht ist das alles ein abgekartetes Spiel!«
Betty biss sich auf die Lippen. »Wieso musst du denn so unbedingt wissen, woher der Tee kommt?«
»Ach!« Anton schien vergessen zu haben, dass er sie neuerdings
wie Hauspersonal herumkommandierte. Seine Stimme nahm wieder den weichen, etwas weinerlichen Klang an wie damals, als sie beide Kinder waren und er sich ihr oft mit seinen Sorgen anvertraute. Aber das dauerte nur einen Moment, dann straffte er sich wieder, steckte einen Daumen in die Knopfleiste seines schwarzen Überziehers und begann zu dozieren. »Es nennt sich Teeprobe. Sie machen es einmal im Jahr vor dem Winter im Patriotisch-Atlantischen Club. Der Gewinner des Vorjahres gibt eine Teeprobe in das Kästchen und reihum soll man erprüfen, welche Teesorte darin ist. Jeder hält sich etwas darauf zugute, dabei mitzumachen. Man darf das Kästchen auch über Nacht mit nach Hause nehmen, aber aufbrühen soll man den Tee natürlich nicht.« Er schnalzte mit der Zunge. »Schade eigentlich, vielleicht wäre es dann leichter. Jedenfalls ist es so: Remburg nimmt mich manchmal in den Club mit. Wir sind da ganz unter uns Kaufleuten. Ich bin natürlich nur der Kiebitz und höre überall genau zu. Aber wenn man in meinem Alter und ohne die entsprechenden familiären Beziehungen eines Tages einmal in den Club aufgenommen werden will, dann muss man diese Probe bestehen, sonst wäre man ja nicht würdig. Eigentlich ist es eher wie eine Wette ohne Gewinn, verstehst du? Der Gewinn ist die Anerkennung.« Er sah sie zum ersten Mal seit Monaten direkt an, auch wenn Aberdira durch zunehmendes Gefuchtel mit den Händen noch so sehr versuchte, Antons Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Es wäre wichtig für mich. Je weiter ich in der Firma komme, desto eher lassen sie mich dort in Ruhe. Dann kann ich meine freie Zeit der Fotografie widmen.«
Weitere Kostenlose Bücher