Die Teeprinzessin
trotz allem mehr Leichtigkeit herrschte als in anderen Häfen. Betty liebte die Stadt, bevor sie auch nur einen Schritt an Land gemacht hatte. Nur noch wenige Stunden, und sie würde sich nahezu ohne eigenes Geld in dieser Stadt am anderen Ende der Welt wiederfinden. Betty konnte es kaum fassen, dass ihr das keine Angst machte. Egal, wie es werden würde, es war besser als alles, was sie in den vergangenen beiden Jahren erlebt hatte!
Wie erwartet, pochte es, zwei oder drei Stunden nachdem sie das Pfeifen und Rasseln der Ankerkette vernommen hatte, an ihre Tür, und ein junger Matrose bat sie, mit ihr an Deck zu kommen. Die Sonne war kurz zuvor aufgegangen. An Deck war alles leer. Offenbar hatte der Kapitän alle Passagiere verdonnert, während ihres unrühmlichen Abschieds unter Deck zu bleiben. Oder steckte man sich hier wirklich so leicht mit dem Fieber an?
Betty hatte das Schiff bislang nur in der Dunkelheit gese hen, damals, als sie an Bord gekommen war, und die wenigen Male, wo sie sich nachts an Deck geschlichen hatte. Nun aber war sie von der Größe und der Erhabenheit der Frieda Maria beeindruckt. Die blassbraunen Segel waren gerefft. Das Schiff lag in der Hafeneinfahrt wie eine träge Diva und diese schien sich von der gleißenden Schönheit der Stadt abzuwenden. Über ihr aber schimmerte ein blassgrüner Himmel. Sie hatte es niemals für möglich gehalten, dass es so etwas gab.
Über dem breiten Fluss lag hoch der Morgennebel, aus dem
sich die goldglänzenden Kuppeln riesiger Paläste herauswölbten. Alles glitzerte und strahlte. Betty sah prächtige Villen zu beiden Seiten des Flussufers. Dazwischen führten breite Treppen bis zum Wasser hinunter. Menschen in hellblauen Gewändern standen auf den Stufen, andere wateten in den Fluss hinein und nahmen in voller Bekleidung ein Bad. Auf einer der Treppen loderte ein Feuer. Der Rauch stieg senkrecht in den Himmel hinauf. Wasserträger schleppten ihre Last an wippenden langen Stangen über einer Schulter. Am Hafen wurde die Ware auf Marktkarren arrangiert. Betty hätte stundenlang einfach nur schauen können. Waren das Früchte, die dort zu mannshohen Pyramiden gestapelt wurden? Anders als Äpfel, Birnen oder Pflaumen waren sie von orangeroter oder gar purpurner Farbe. Betty glaubte, ihren süßen Duft bis hierher zu spüren.
Sie hatte eines ihrer neuen hellen Sommerkleider angezogen. Der Stoff war noch fest von der Appretur mit Stärke, nun raschelte er bei jedem Schritt. Betty spürte es vom ersten Moment an - sie war viel zu warm angezogen. Und das, obwohl das cremefarbene Kleid das dünnste war, das sie besaß. Das Schultertuch hatte sie bereits in ihren Tragebeutel gleiten lassen. Es gab nichts, aber auch gar nichts, was sie schicklicherweise noch ablegen konnte. Und den Hut brauchte sie als Schutz gegen die brennende Sonne. Waren es die ungewohnte sommerliche Luft und das zarte Grün, die Betty fast zum Taumeln gebracht hätten, oder das leichte Drehen des Schiffs? Eine Stimme brüllte etwas. Jemand schlug ungeduldig ein Ruder gegen die Bordwand. Sie wurde geheißen, die Jakobsleiter hinunterzuklettern. Ein Seemann stand bereits breitbeinig im Beiboot und hielt es dicht an der Schiffswand. Im vorderen Teil des Bootes war ihr Gepäck gestapelt, der große Koffer und die Reisetasche, daneben die beiden kleinen Kisten mit dem Silber.
Warum nur hatte der Kapitän die Silberkisten nicht konfisziert?
Der Seemann tauchte die Ruderblätter in das stille Wasser. Die Morgenhitze senkte sich wie ein Glocke über Betty. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Wärme gefühlt zu haben. Obwohl sie sich nicht bewegte, schienen ihre Klei der bald an ihrer Haut zu kleben. Die Sonne brannte in ihren Augen.
Auf dem Kai, der zum Meer hin über eine filigrane Seebrücke zu erreichen war, fuhren zwei Gespanne mit zierlichen braunen Ponys. Alle Fensterläden der großen Lagerhäuser waren zum Schutz vor der Sonne geschlossen, was ihnen eine totengleiche Würde gab, so als sei keines von ihnen mehr in Gebrauch. Schon bevor sie an einer seichten Stelle anlegen konnten, stand ein halbes Dutzend zerlumpt wirkender junger Männer bereit, um beim Entladen des Gepäcks zu helfen.
Zwei von ihnen reichten Betty die Hände und zogen sie ohne viel Federlesens aus dem Boot, einer wollte sogar ihren Rock mit einer Art Staubwedel abklopfen. Aber Betty drehte sich schnell von ihm weg. Der Seemann schien nicht recht zu wissen, ob er sich nun von Betty verabschieden sollte
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