Die Teerose
ob sie nicht zu hohe Preise forderten? Sie wußte noch nicht einmal, wieviel die Waren kosteten. Oder was Amerikaner aßen. Woher sollte sie wissen, welche Mengen sie bestellen mußte? Verkaufte ein Laden dieser Größe einen Vierzigpfundsack Porridge in der Woche oder nur ein paar Tüten? Wieviel Milch sollte sie für einen Tag bestellen? Wie viele Schnitzel und Würste? Es würde nicht funktionieren. Sie hatte zu wenig Ahnung. Sie würde es nicht einmal mit der Bank schaffen. Gestern, am Montag, war sie hingegangen, um mit dem Direktor am Ende der Woche einen Termin auszumachen. Er würde merken, daß sie keine Ahnung von Geschäftsführung hatte, und sie gleich rauswerfen.
Instinktiv griff sie in die Tasche nach dem blauen Stein, den Joe ihr geschenkt hatte, wie immer, wenn sie bedrückt war oder Angst hatte, aber er war weg. Natürlich war er das, weil sie ihn versetzt hatte. Ein Gefühl der Leere, des Verlusts überkam sie. Sie sehnte sich nach ihm, brauchte ihn so sehr. Wenn er doch bloß hier wäre. Er würde wissen, was zu tun war. Es wäre nicht so schwer, wenn sie zusammen wären. Wenn sie sich aufgeregt hatte, küßte er sie, bis sie wieder lachte. Es tat so weh, an ihn zu denken. Es war, als berührten ihre Finger eine große häßliche Wunde, um festzustellen, ob sie noch schmerzte, und um dann vor Qual zurückzuzucken. Warum konnte sie ihn nicht einfach vergessen, wie er sie in jener Nacht vergessen hatte?
Die Wanduhr schlug Mittag. In London wäre es fünf Uhr, dachte sie. Teezeit am Dienstag. Er würde aus seinem Büro nach Hause gehen, wo immer das auch sein mochte. Sie fragte sich, wie sein Leben jetzt wohl aussah. Wohnte er in einer Luxusvilla? Trug er maßgeschneiderte Anzüge und fuhr in einer Kutsche herum? War er jetzt ein wichtiger Mann bei Peterson’s? War er glücklich? Es zerriß ihr das Herz, wenn sie sich vorstellte, daß Millie ihm jeden Tag in die Augen blicken, sein Lächeln sehen, ihn berühren würde. Und sie? Sie würde ihn nie mehr zu Gesicht kriegen. Vielleicht saß er zu Hause und aß eine warme Mahlzeit, vielleicht war er in einem vornehmen Restaurant oder …
Wo immer er auch sein mochte, dieser Schuft steht nicht, von oben bis unten mit Putzmittel und Essigsoße beschmiert, in einem verkommenen Laden, sagte ihre innere Stimme ärgerlich. Fiona versuchte, sich von der inneren Stimme anstecken zu lassen. Es war besser, wütend als traurig zu sein. Es war einfacher. Sie versuchte, sich einzureden, daß es ihr egal war, wo er war und was er tat, weil sie ihn haßte. Aber das stimmte nicht. Sie liebte ihn. Immer noch. Trotz allem. Und sie wünschte sich nichts mehr auf der Welt, als daß er durch die Tür träte, sie in die Arme nähme und ihr sagte, daß alles ein schrecklicher Irrtum gewesen sei.
Darauf bestand herzlich wenig Aussicht, dachte sie. Entschlossen wischte sie die Gedanken an Joe beiseite. Es gab Arbeit zu erledigen, und sie hatte keine Zeit, herumzustehen und sich zu bemitleiden. Die Wände mußten gestrichen werden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie Farbe kaufen konnte, aber sie erinnerte sich, vor einem Nachbarhaus Farbkübel gesehen zu haben, als sie hier ankam. Wer immer dort wohnte, hatte gerade sein Haus frisch gestrichen. Vielleicht wußte er oder sie, wohin sie sich wenden sollte. Als sie nach draußen trat, hielt eine Kutsche an. Die Tür ging auf, und ein großer blonder Mann mit einem Picknickkorb in der Hand sprang heraus.
»Nicholas!« rief sie erfreut aus. »Was um alles in der Welt machst du hier?«
»Ich hab dich vermißt! Ich weiß, daß wir uns am Donnerstag treffen wollten, aber ich konnte es nicht abwarten.«
Fiona war entzückt, ihn zu sehen. Allein sein Lächeln machte ihr gute Laune. »Du siehst gut aus«, sagte sie. Was stimmte – er war attraktiv und schick gekleidet, wie immer. Wenn auch ein bißchen zu blaß vielleicht.
»Und du siehst aus wie eine dreckige kleine Lumpensammlerin!« antwortete er und wischte ihr Putzmittel vom Kinn. »Was machst du da, um Himmels willen?« Er sah sie von oben bis unten an, registrierte die hochgekrempelten Ärmel und die aufgebundenen Röcke. Dann sah er auf den Berg an Unrat im Rinnstein, den leeren Laden und das Versteigerungsschild, das noch im Fenster stand, und runzelte die Stirn. »Hm, läuft wohl nicht ganz so wie geplant, altes Haus?«
»Nicht ganz«, antwortete sie und lächelte über den seltsamen Kosenamen.
»Was ist passiert?«
Sie seufzte. »Na ja … meine Tante ist tot und mein
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