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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Gründe angeführt hatte, warum Burton niemals einer Anhebung der Löhne für seine Arbeiter zustimmen würde. Sie wußte, daß der Börsengang einen großen Triumph für ihn bedeutete, und tatsächlich hieß es in dem Artikel, daß das Interesse an den Aktien seine Erwartungen übertroffen habe. Das Geld wolle Burton zur Modernisierung seiner Londoner Niederlassung und zum Kauf einer eigenen Teeplantage in Indien nutzen – Schritte, die ihm erlauben würden, den Tee effizienter zu löschen und zu verpacken. Die Kontrolle über die Firma verbliebe dabei in seinen Händen, da er einundfünfzig Prozent von den ausgegebenen Aktien zurückbehalten habe.
    Zu wissen, daß William Burtons Unternehmen blühte, während ihr Vater, ihre ganze Familie in kalter Erde lag, traf Fiona so tief und schmerzlich wie das Messer in dem Alptraum. Bevor sie den Artikel gelesen hatte, war sie die Rechnungsbücher durchgegangen und hatte zu ihrer Freude festgestellt, daß die Einnahmen höher waren, als sie gedacht hatte, hoch genug, um damit anzufangen, sich das Geld zurückzunehmen, das sie zur Deckung der Schulden ihres Onkels ausgelegt hatte. Dieses Wissen hatte ihr ein wundervolles Gefühl der Sicherheit gegeben. Aber jetzt, nach dem Alptraum, erschienen ihr die Einkünfte des Ladens unbedeutend. Lachhaft sogar. Sie waren nichts im Vergleich zu Burtons Reichtum.
    Als die Britannic England verlassen hatte, hatte sie Burton Rache geschworen. Leere Worte, dachte sie. Jetzt war Anfang Mai, sie war seit über einem Monat in New York und hatte immer noch keine Idee, wie sie diese Rache ausführen wollte. Oder finanzieren konnte. Sie wußte, daß sie eine Menge Geld bräuchte, um jemand so Mächtigen wie Burton zu treffen. Aber bis jetzt hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wie sie zu diesem Geld kommen könnte. Will hatte gemeint, sie sollte auf dem aufbauen, womit sie sich auskannte. Doch nichts, womit sie sich auskannte, würde sie reich machen. Hafer, Plätzchen und Äpfel waren kein Silber oder Öl. Sie mußte etwas finden, eine Sache, womit sie ihr Vermögen machen konnte … aber was?
    Michael kam mit einer Tasse Tee ins Wohnzimmer zurück. »Da, trink das«, sagte er. Diese Geste überraschte Fiona. Bislang hatte er keinerlei Anteilnahme gezeigt, aber sie nahm dankbar an. Er blieb eine Weile bei ihr sitzen, gähnte und rieb sich das Gesicht. Als sie ihn ansah, war sie erneut verblüfft über seine Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Wieder tauchte flüchtig und verschwommen ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf – ihr Vater, wie er in dem Alptraum ausgesehen hatte. Er wollte ihr etwas geben, versuchte, ihr etwas zu sagen, aber ihr fiel nicht mehr ein, was. Und dann sagte Michael, er gehe wieder ins Bett und hoffe, der schwarze Mann komme nicht noch einmal, und so schnell das Bild aufgetaucht war, verschwand es auch wieder. Er riet ihr, sich ebenfalls hinzulegen.
    »Ich glaube nicht, daß ich schlafen kann, selbst wenn ich’s versuche, Onkel Michael«, sagte sie und stand auf. Sie wußte, wenn sie ins Bett ginge, würde sie nur wach bleiben und wieder an ihren Alptraum denken. Arbeit war das einzige Gegenmittel für ihre Ängste, das einzige, worin sie sich verlieren konnte. Sie griff nach ihrer Schürze, die über der Stuhllehne hing, und band sie sich um.
    »Es ist Mitternacht«, sagte Michael. »Was zum Teufel hast du vor?«
    »Ich geh nach unten. Um den neuen Tag anzufangen.«
    »Wart wenigstens bis Sonnenaufgang. Du solltest nicht allein da unten sein.«
    Fiona schenkte ihm ein müdes Lächeln. Allein? Mit all den Geistern und Erinnerungen? »Das bin ich nicht, Onkel Michael«, sagte sie. »Der schwarze Mann leistet mir Gesellschaft. Und alle seine Freunde.«
     
    Oft wenn er nachts nicht schlafen konnte, wanderte Nicholas Soames durch die Straßen von Manhattan. Dort, in der Dunkelheit kam ein Gefühl des Friedens über ihn. Ein Gefühl, daß das Monster zur Ruhe kam. In diesen Momenten schien ihm die Stadt ganz allein zu gehören. Die Gehsteige waren leer, die Rolläden der Geschäfte heruntergelassen, nur die Pubs und Restaurants waren noch erleuchtet. Dann konnte er stehenbleiben und sich Dinge ansehen, wenn er wollte. Es gab niemand, der ihn drängte, niemand, der ungeduldig murrte, wenn er ein interessantes Gebäude betrachtete oder in einen hübschen Hof spähte.
    Heute nacht war er eine ziemliche Strecke gegangen, den ganzen Weg von seinem Hotel auf der Fifth Avenue, Ecke Twentythird Street, am Washington Square vorbei zur

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