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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Kutsche heranfahren. Sie war elegant und schwarz und auf Hochglanz poliert. Flammen flackerten in den Laternen zu beiden Seiten. Zwei Hengste, beide so dunkel wie die Nacht, zogen sie. Blaue Funken stoben von ihren Hufen, als sie über das Pflaster jagten. Es sah aus, als machte der Teufel persönlich eine mitternächtliche Ausfahrt. Was sie als nächstes sah, überzeugte sie, daß es so war.
    Frances Sawyer, oder was von ihr übrig war, hielt die Zügel. Sie hatte kein Gesicht mehr. Jack hatte es ihr abgeschnitten. Ihr Schädel schimmerte weiß im Gaslicht, an dem rohen Knochen klebte Blut. Ihr zerrissenes Kleid hing an ihrem verstümmelten Körper. Ihre Rippen bewegten sich wie ein Akkordeon, und ihre fleischlosen Knochen arbeiteten, als sie die Pferde abrupt zum Stillstand brachte. Sie drehte den Kopf, die Wundränder ihres durchschnittenen Halses trafen schmatzend aufeinander, und sie starrte sie aus leeren Augenhöhlen an. »Er ist da«, sagte sie mit gurgelnder Stimme.
    Gegen das Tor gedrückt, unfähig, sich zu rühren oder zu schreien, zwang sich Fiona, von der Kutscherin zu dem Fahrgast zu sehen. Das Fenster war offen, aber sie erkannte nur eine Silhouette – einen Zylinder, Hände, die auf einem Spazierstock ruhten. Dennoch wußte sie, wer es war. Jack. Der schwarze Mann. Seine Finger krampften sich ums Fensterbrett. Die Tür sprang auf, und eine Flut von Teeblättern ergoß sich auf den Boden. Er stieg aus, berührte in einer Art höhnischem Gruß den Rand seines Huts, grinste und enthüllte spitze, blutverklebte Zähne. Es war nicht Jack. Es war William Burton. Er hielt ein Messer in der Hand.
    Mit erhobener Hand holte er gegen sie aus. Das Messer machte ein lautes, schmatzendes Geräusch, als es bis zum Griff in ihre Brust eindrang. Sie schrie auf vor Schmerz. Er zog es heraus, leckte die rote Flüssigkeit ab, die herabtropfte, und sagte: »Ein Assam. Ganz eindeutig. Zu stark für einen Darjeeling. Zu reichhaltig für einen Dooars.« Wieder hob er das Messer, aber ihre Lähmung war vorbei. Wie wahnsinnig schlug sie auf ihn ein.
    »Hör auf, Fiona!« rief er und hielt sie zurück. »Mein Gott!«
    »Ich bring dich um!« schrie sie und zerkratzte sein Gesicht.
    »Au! Du kleines … das tut weh!« Er packte sie an den Handgelenken und schüttelte sie. »Wach auf, du dummes Ding! Ich bin’s, Michael!«
    Fiona öffnete die Augen. Ein ärgerliches, schlaftrunkenes Gesicht starrte sie an. Das ihres Onkels. Nicht Burtons. Mit pochendem Herzen sah sie sich um. Sie saß in einem Sessel in Michaels Wohnzimmer. Zu ihren Füßen lagen das Rechnungsbuch des Ladens und eine Ausgabe der Londoner Times. Sie war aber in New York, nicht in London. Und sie war in Sicherheit, sagte sie sich. Dennoch mußte sie auf ihre Brust hinabsehen, um sich zu überzeugen, daß dort kein Messer steckte.
    »Onkel Michael … tut mir leid … ich hab geträumt …«, stammelte sie.
    Er ließ sie los. »Was zum Teufel hast du denn?« fragte er. »Endloses Geschrei … du hast mich zu Tode erschreckt. Ich hab gedacht, jemand bringt dich um.«
    »Ich auch.«
    »Was machst du überhaupt hier? Warum liegst du nicht im Bett?«
    »Ich hab die Bücher durchgesehen. Vom Laden. Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen.»
    Er nickte. »Na schön … wenn’s dir nur jetzt wieder gutgeht«, antwortete er mürrisch.
    »Ja, sicher«, antwortete sie, aber plötzlich wurde sie von einem heftigen Zittern gepackt. Mein Gott, was für ein Alptraum, dachte sie. Der schlimmste, den ich je gehabt hab. Sie legte die Hände aufs Gesicht und stöhnte auf bei der Erinnerung an Jack und Burton. Die beiden waren in ihrem Alptraum zu einer Person verschmolzen, zur Verkörperung ihres größten Schreckens.
    Sie beugte sich hinunter, um ihre Papiere aufzuheben, und war entschlossen, den Traum beiseite zu schieben. Als sie nach der Times griff, die aufgeschlagen am Boden lag, blieb ihr Blick an dem Artikel hängen, den sie gelesen hatte. »Lukrativer Börsengang für Teehändler«, besagte die Überschrift, und darunter stand: »Die ehrgeizigen Expansionsabsichten von Burton Tea.«
    Das hatte den Traum ausgelöst. Wie so oft hatte sie auch heute eine Ausgabe der Times gekauft, in der Hoffnung auf Neuigkeiten über die Dockarbeiter-Gewerkschaft, war aber auf den Artikel über Burton gestoßen. Obwohl sie nicht ganz verstand, was die Börse eigentlich war oder wie sie funktionierte, erinnerte sie sich, daß ihr Vater über den Börsengang gesprochen und ihn als einen der

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