Die Teerose
Blecker Street. Es war spät, kurz nach Mitternacht, und, schließlich müde geworden, beschloß er, zum Broadway zu schlendern und eine Droschke zu nehmen.
Gerade als er die Blecker Street überqueren wollte, sah er sie. Zwei Männer. Sie gingen nebeneinander. Sie hielten sich weder an der Hand, noch berührten sie sich, dennoch wußte er Bescheid. Wegen der Art, wie der eine dem anderen den Kopf zuneigte. Wegen ihres entspannten Lachens.
Er beobachtete, wie einer der beiden die Tür eines Wirtshauses öffnete und beide nach drinnen verschwanden. Wie erstarrt blieb er stehen. Zwei weitere Männer gingen hinein. Dann einer allein. Dann vier. Als er sich endlich genügend gefaßt hatte, um die Straße zu überqueren, sah er ein kleines Schild neben dem Eingang. THE SLIDE stand darauf. Eine Hand tauchte vor ihm auf. Finger schlossen sich um die Klinke. »Gehen Sie rein?« fragte ein Mann mit lokkigem blondem Haar.
»Ich? Nein … ich … danke. Nein.«
»Wie Sie wollen«, antwortete er.
Kurz bevor sich die Tür schloß, hörte er Lachen, roch den Duft von Zigaretten und Wein. Er biß sich auf die Lippen. Er wollte reingehen, einen Abend mit seinesgleichen verbringen. Mit einem gutaussehenden Mann eine Flasche Rotwein trinken. Die Maske fallen lassen. Nur für eine Weile.
Er griff nach der Klinke, zog aber die Hand wieder zurück. Es war zu gefährlich. Er durfte nicht sein, was er war. Hatte er das inzwischen nicht gelernt? Nach all dem Schmerz und Leid, das er über sich, seine Familie und Henri gebracht hatte? Er ging von der Tür weg und zog sich in den Schatten einer großen, schützenden Ulme zurück.
Geh zurück, sagte er sich. Mach kehrt. Jetzt. Es war zu riskant. Was wäre, wenn ihn jemand sah? Jemand, den er kannte? Er warf einen letzten Blick auf das Slide und sah einen Mann darauf zugehen. Er war groß und schön, mit langem dunklem Haar, das ihm in dichten Wellen auf die Schultern fiel. Aus der Ferne sah er wie Henri aus. Der Mann blieb stehen, warf einen kurzen Blick auf Nick, schüttelte den Kopf und lachte. »Willst du dich die ganze Nacht unter dem Baum verstecken, du Angsthase?« fragte er. Er lachte immer noch, als er die Tür hinter sich schloß.
Nick starrte auf die Tür. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Alles, was er sich auf der Welt wünschte, war jetzt hinter der Tür. Geselligkeit, Lachen, Wärme, Verständnis. Seine Sehnsucht war überwältigend. Ich geh bloß für eine kleine Weile rein, sagte er sich. Nur eine Stunde. Nur auf ein oder zwei Drinks. Vielleicht unterhalte ich mich ein bißchen. Das ist doch ganz harmlos. Nur einen Drink, dann geh ich wieder. Nur dieses eine Mal.
31
W ie wär’s mit noch ein bißchen Pastete, Seamie, Schatz?« fragte Mary und stand vom Tisch auf.
Seamie nickte begierig und hielt ihr seinen Teller hin.
»So ein Vielfraß«, sagte Fiona.
»Ach, Unsinn. Er hat bloß einen gesunden Appetit. Wie es bei einem Junge, der im Wachstum ist, sein soll.«
»Ich nehm auch noch was, Mama«, sagte Ian und stand auf, um seiner Mutter zu helfen.
»Ich auch«, sagte Fiona.
»Fiona, das ist dein drittes Stück!« meinte Mary lachend. »Wer ist denn hier der Vielfraß?«
Fiona kicherte schuldbewußt und reichte Ian ihren Teller. Mary kochte wundervoll. Ihre Pastetenkruste war goldbraun und knusprig, die Fleischstücke in der sämigen Soße herrlich zart. Ihr Kartoffelbrei war locker und ihre Erbsen knackig.
Mary füllte die Teller erneut. Sie hatte viel gekocht, worüber Fiona froh war, denn sie war völlig ausgehungert. Wieder hatte sie einen arbeitsreichen Samstag hinter sich und war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen. Sie aßen in Michaels Küche, weil sie geräumiger war als die in Marys Wohnung und einen großen Tisch besaß, an dem alle Platz hatten. Was das Kochen anging, hatte Fiona nicht viel Talent und auch wenig Interesse, aber es war ihr wichtig, daß Seamie gute, warme Mahlzeiten bekam. Sie und Mary hatten vor einigen Wochen eine Vereinbarung getroffen: Sie würde die Nahrungsmittel fürs Abendessen stellen, und Mary würde es zubereiten. Das war ein Abkommen, das beiden entgegenkam. Fiona genoß die Mahlzeiten mit den Munros, die so etwas wie eine Familie für sie geworden waren. Sie und Seamie waren ein Teil ihres Lebens und umgekehrt, und zwar auf eine Weise, wie ihr Onkel – der immer noch seine meiste Zeit bei Whelan’s verbrachte – es nicht war.
»Sind jetzt alle versorgt?« fragte Mary, als sie die Teller auf den Tisch
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