Die Teerose
fiel heraus, als ich einmal deine Uhr weglegen wollte. Er sah so glücklich aus, der Mann auf dem Bild. Ich dachte, daß du es aufgenommen hast und daß er dein Liebster sein muß.«
»Das war er«, sagte Nick traurig.
»War er? Wo ist er jetzt?« fragte sie.
Nick schloß ein paar Sekunden die Augen. Als er sie wieder öffnete, standen sie voller Tränen. »In Paris. Auf dem Friedhof Père-Lachaise. Er starb letzten Herbst.«
»Ach, Nick, das tut mir so leid. Was ist denn passiert?«
Während der nächsten Stunde erzählte ihr Nick alles über Henri. Er erzählte ihr, wie sie sich kennengelernt und wieviel Henri ihm bedeutet hatte. So viel, daß er seiner Familie den Rücken kehrte, um mit ihm in Paris zu leben. Er sei so glücklich gewesen und habe seine Entscheidung nie bereut, aber eines Abends im September sei ihm sein Glück entrissen worden.
Er und Henri seien an der Seine entlangspaziert, erzählte er. Henri habe sich nicht wohl gefühlt. Nick habe ihm die Stirn befühlt und dann tröstend den Arm um ihn gelegt. Normalerweise habe er Henri in der Öffentlichkeit nicht berührt – das sei zu gefährlich gewesen –, aber besorgt, wie er war, habe er darauf nicht geachtet. Die Geste wurde von einer Gruppe junger Flegel beobachtet, die hinter ihnen gingen, sie angriffen und in den Fluß warfen. Henri ging unter, aber Nick schaffte es, ihn herauszuziehen. »Er war bei Bewußtsein, als ich ihn ans Ufer brachte«, sagte er. »Als schließlich Hilfe eintraf, fiel er ins Koma.«
Er selbst war nur leicht verletzt worden, ein paar Kratzer und Blutergüsse, ein blaues Auge, nichts Ernstes. Henri jedoch hatte einen Schädelbruch erlitten. Er erlangte das Bewußtsein nicht wieder und starb zwei Tage später.
»Ich war am Boden zerstört«, sagte Nick. »Ich konnte weder essen noch schlafen. Über einen Monat bin ich nicht zur Arbeit erschienen und verlor meine Stelle.«
Das Krankenhaus informierte Henris Eltern – ein biederes Bürgerpaar, das außerhalb von Paris lebte. Sie waren mit dem Künstlerberuf ihres Sohnes nicht einverstanden gewesen, ebensowenig mit seinem Umgang, und verweigerten all seinen Freunden die Teilnahme am Begräbnis.
»Ich trauerte allein«, sagte Nick. »Ich dachte, ich würde wahnsinnig vor Schmerz. Ich konnte den Anblick unserer Wohnung, der Straßen, durch die wir gegangen waren, der Cafés, in denen wir gegessen hatten, nicht ertragen.«
Zwei Wochen später erhielt er einen Brief von seiner Mutter, die ihn anflehte, es sich doch noch einmal zu überlegen und nach Hause zu kommen. Ihre Bitten trafen ihn in einem schwachen Moment. Er war verzweifelt und sehnte sich nach dem Trost seiner Familie, und obwohl er wußte, daß er ihr nie von Henri erzählen durfte, entschloß er sich zurückzugehen. Ihn hielt nichts mehr in Paris.
Seine Mutter und seine Schwestern freuten sich, ihn wiederzusehen, aber sein Vater reagierte voller Ablehnung und machte ihm ständig Vorwürfe, seine Pflichten vernachlässigt zu haben. Nick tat sein Bestes, ihm entgegenzukommen. Er nahm seine Arbeit auf, schuftete hart, überwachte die Eröffnung neuer Bankfilialen, übernahm sogar die anstrengende Vorbereitungsarbeit bei der Gründung einer Reihe von Aktiengesellschaften, die die Albion-Bank an die Börse brachte, und brütete über Kontenblättern und Rechnungsbüchern. Er besuchte Fabriken, Dockanlagen, Minen und Mühlen – aber nichts, was er tat, war gut genug. Er wurde depressiv, begann zu trinken und dachte sogar an Selbstmord. Jeden Abend ging er aus, nur um seinem Vater nicht begegnen zu müssen. Verbittert und verzweifelt nach Ablenkung suchend, ließ er sich mit einer Gruppe junger reicher Taugenichtse ein, die größtenteils seine sexuellen Neigungen teilten. Eines Nachts landeten sie betrunken in einem Männerbordell in der Cleveland Street, und er schlief mit einem der Strichjungen. Für ihn war es ein menschlicher Kontakt, eine Möglichkeit, sich zu vergessen. Am nächsten Morgen bedauerte er es, tat es aber immer wieder. Er fuhr mit dem Trinken fort und wachte oftmals auf, ohne zu wissen, wo er die Nacht verbracht oder wie er nach Hause gekommen war.
Seine Gesundheit begann zu leiden. Er fühlte sich schwach und antriebslos. Seiner Mutter entging dies nicht, und sie schickte ihn zu Dr. Hadley, dem Hausarzt der Familie. Er nahm an, der Arzt würde seinen Fall diskret behandeln, aber er täuschte sich. Dr. Hadley diagnostizierte Syphilis und informierte umgehend seinen Vater, der ihn blutig
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