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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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schlug. Er warf ihn gegen die Wand seines Arbeitszimmers, bezeichnete ihn als Abscheulichkeit und verfluchte Gott, ihm einen solchen Sohn geschenkt zu haben. Er befahl ihm, sein Haus zu verlassen, und stellte ihn vor die Wahl, entweder nach Amerika zu gehen und dort still sein Ende abzuwarten – dann würde er ihn großzügig unterstützen – oder in London zu bleiben und ohne einen Penny auf der Straße zu sterben.
    »Ich lag auf dem Boden, Fee, und versuchte, zu Atem zu kommen. Mein Vater verließ das Arbeitszimmer, kam aber plötzlich wieder zurück, beugte sich über mich und sagte, er wisse, was ich sei. Er wisse über Paris und Arles Bescheid, auch über Henri. Mir gefror das Blut. Er wußte, wie das Haus aussah, in dem ich lebte, und er kannte die Namen der Cafés, die ich besuchte. ›Wenn du das alles weißt, dann weißt du auch von Henris Tod, nicht wahr?‹ sagte ich. Und als ich das sagte, wurde ich von grenzenlosem Haß gepackt. Ich hatte immer gewußt, daß er ein Unmensch war, aber die Vorstellung, daß er von meinem Verlust wußte und nichts gesagt hatte! Und dann, Fiona, lächelte er und sagte: ›Davon gewußt? Nicholas, ich habe dafür bezahlt.‹«
    Fiona weinte, als er mit seiner Geschichte fertig war. Das Herz tat ihr weh vor Mitleid. Daß ein Vater seinem Kind so etwas antun konnte, war ihr unbegreiflich. Den Liebhaber seines Sohnes ermorden zu lassen. Sein eigen Fleisch und Blut auf die Straße hinauszujagen wie einen Hund.
    Nick wischte sich die Augen ab. Die kleine Besserung, die nach Dr. Eckhardts Besuch eingetreten war, nahm wieder ab. Fiona bemerkte, daß sie ihn zu sich nach Hause bringen mußte, bevor er sich noch schlechter fühlte.
    Während sie nach sauberen Kleidern für ihn suchte, sagte er: »Wenigstens wird es jetzt nicht mehr lange dauern, bis ich wieder bei Henri bin.«
    »Sprich nicht so«, tadelte sie ihn streng. »Henri wird noch eine Weile warten müssen. Jetzt stehst du unter meiner Aufsicht. Und dir wird’s wieder bessergehen. Dafür werde ich sorgen.«

   35   
    D ie Zahlen steigen«, sagte Davey O’Neill. »Jede Woche kommen Dutzende neuer Mitglieder dazu. Sie haben keine Angst. Sie sind verdammt wütend und lassen sich nicht mehr einschüchtern. Vor Jahresende kommt es zum Streik. Meiner Schätzung nach spätestens im Herbst.«
    O’Neill beobachtete, wie sich William Burtons Gesicht verdüsterte. Er sah, wie seine Hand in seine Tasche glitt und seine Finger sich um etwas schlossen.
    »Vorsicht, Chef. Wenn Sie ihm das andere auch noch abschneiden, müssen wir uns einen anderen suchen, der die Lauscher aufstellt«, sagte Bowler Sheehan kichernd.
    Davey zuckte nicht zusammen. Er rührte sich nicht. Das war besser so. Burton erinnerte ihn an ein wildes Tier – einen Wolf oder einen Schakal –, an ein Tier, das auf der Lauer liegt und erst zu jagen beginnt, wenn das Opfer wegläuft. Burton hatte ihm ein Ohr abgeschnitten, hier am Oliver’s Kai, und Davey hatte keine Lust, noch einmal sein Messer zu spüren, obwohl der physische Schmerz, so schlimm er auch gewesen war, nur kurz angehalten hatte. Der andere Schmerz jedoch, der innere, trieb ihn zum Wahnsinn. Ein Schmerz, bei dem er sich jedesmal am liebsten umgebracht hätte, wenn er in einer Gewerkschaftsversammlung saß und sich Namen, Daten und Pläne merken mußte. Oder wenn er einem seiner Arbeitskollegen zuhörte, der sich wunderte, warum die Fabrikbesitzer und Vorarbeiter ständig über alle Schritte der Gewerkschaften informiert waren. Er hätte sich aufgehängt, wären da nicht seine Frau und seine Kinder gewesen. Sie wären verloren ohne ihn. Und Burtons Geld gab ihnen zum erstenmal Sicherheit im Leben. Jetzt konnte er sich für Lizzie einen Arzt und richtige Medizin leisten, und wenn er sah, wie ihre Wangen wieder Farbe bekamen und ihre spindeldürren Glieder kräftiger wurden, war das das einzige, was ihm Freude brachte.
    Sarah, seine Frau, hatte weder die Geschichte angezweifelt, die er ihr wegen seines Ohrs erzählt hatte, noch den plötzlichen Geldsegen hinterfragt, sondern nahm einfach nur kommentarlos und dankbar die Summe entgegen, die er ihr jede Woche gab. Jetzt gab es für jeden Fleisch zum Abendessen. Es gab warme Wollunterwäsche und neue Stiefel für die Kinder. Sie hatte um eine neue Jacke und einen neuen Rock für sich gebeten, aber er hatte abgelehnt. Und sie wollte ein paar Straßen weiter in ein besseres Haus ziehen, was er ebenfalls abgelehnt hatte. Als sie dagegen aufbegehrte,

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