Die Teerose
erwiesen. Er hatte zwar eine Nichte, aber sie hieß Frances und war zehn Jahre alt. Auch Eddie war nicht erfolgreicher gewesen. Er hatte den Lebensmittelladen auf der Eighth Avenue gefunden und von einem alten Mann erfahren, daß hier ein Michael Finnegan wohne, aber im Moment nicht zu Hause sei. Er riet ihm, am Morgen wiederzukommen. Eddie wollte fragen, ob dieser Michael eine Nichte habe, aber der Mann schnitt ihm das Wort ab und sagte, es habe heute nacht schon genügend Störung gegeben, und er werde einem Gassenjungen keine weiteren Fragen beantworten. Dann warf er ihm die Tür vor der Nase zu.
Das war vorgestern gewesen. Eddie hatte gestern einen kleinen Auftrag als Verteiler von Flugblättern ergattern können und konnte nicht in die Eighth Avenue zurückkehren, aber er hatte Joe die Adresse gegeben. Heute morgen würde er selbst hingehen. Er mußte Fiona finden, und zwar bald. Obwohl er mit seinem Geld sehr vorsichtig umgegangen war, schmolz es schnell dahin. »Wo bist du nur, Mädchen«, seufzte er laut. »Wo zum Teufel bist du?« Plötzlich überkam ihn große Niedergeschlagenheit. Er setzte sich eine Weile aufs Bett, stützte den Kopf auf und war überzeugt, daß er sie nie finden würde, daß all seine Hoffnungen und Mühen umsonst waren.
Dann raffte er sich wieder auf und war entschlossen, die Suche fortzusetzen. Er durfte jetzt einfach nicht aufgeben. Sie war hier. Das spürte er, das wußte er. Er mußte nur den richtigen Finnegan finden. Als er nach seinen Stiefeln griff, klopfte es plötzlich so heftig an die Tür, daß er erschrak.
»Mister!« rief eine Kinderstimme durch die Tür. »Machen Sie auf! Ich hab sie gefunden! Diesmal stimmt’s!«
Joe durchquerte mit zwei Sätzen den Raum. Er riß die Tür auf. Eddie stand mit einer Zeitung in der Hand auf der Schwelle. »Sehen Sie! Das ist sie doch, ja? Fiona Finnegan!«
Er nahm die Zeitung. Und tatsächlich war auf der zweiten Seite ein Foto von Fiona, aber nicht von der Fiona, die er kannte. Diese Fiona lächelte. Sie trug ein elegantes Kostüm und einen hübschen Hut und sah bezaubernd aus. Absolut strahlend. Ein Mann küßte ihre Wange. Darüber stand: New Yorks bezauberndstes Paar heiratet im Gerichtssaal.« Der Artikel stammte von einem Mr. Peter Hylton und schilderte die Verhaftung von Nicholas Soames, die Verteidigung seines Anwalts, Hyltons heroische Aussage zugunsten von Mr. Soames und Miss Finnegans tränenreiche Bitte an den Richter. Neben dem Artikel befanden sich zwei Spalten, die sich mit Nicholas Soames’ Galerie und Fionas aufblühendem Teehandel beschäftigten.
Joe war wie vor den Kopf geschlagen. Das war doch nicht möglich. Er las weiter. Fiona wohnte in Chelsea, hieß es, über dem Lebensmittelladen ihres Onkels Michael Finnegan. Genau die Adresse, die Eddie aufgesucht hatte. Wenn nur er zu Eighth Avenue statt zur Duane Street gegangen wäre. Mein Gott, wenn nur er …
»Mister? Geht’s Ihnen gut? Sie sehen schlecht aus«, sagte Eddie. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Oder Whiskey? Vielleicht sollten Sie sich setzen.«
»Mir geht’s gut«, sagte Joe wie erstarrt. Er griff in seine Tasche, zog heraus, was er erwischte, und gab es Eddie.
»Einen ganzen Dollar? Mein Gott, danke!«
Joe brachte ihn zur Tür. Dann nahm er die Zeitung wieder in die Hand, starrte das Foto an und hoffte, daß es doch nicht Fiona war. Aber sie war es. Es war ganz eindeutig ihr Gesicht, ihr Lächeln. Auf einmal fühlte er sich leer und ausgelaugt. Er spürte keine Hoffnung, kein Leben mehr in sich. Alles war innerhalb eines Moments ausgelöscht worden.
Als er sie ansah, lachte er bitter auf. Was für ein Narr er doch war. Sie war nicht das arme, elende Wesen, das er erwartet hatte. Sie war weder in Schwierigkeiten, noch hatte sie Angst. Wie konnte er nur annehmen, sie sei verzweifelt und einsam ohne ihn. Sie war eine schöne, erfolgreiche Frau, nicht mehr das Mädchen, dessen Herz er auf den Old Stairs gebrochen hatte. Sie hatte sich inzwischen ein eigenes Leben aufgebaut. Ein gutes. Und sah so glücklich aus, wie eine junge Braut es neben ihrem attraktiven Bräutigam tun sollte – einem Mann, der allem Anschein nach ein bißchen mehr war als ein Straßenhändler aus Whitechapel.
Joe sah ihn an – er wirkte ein bißchen aus der Fassung, aber trotzdem gutaussehend –, ihn, der ihre Wange küßte, und ihm wurde schlecht vor Eifersucht. Was hast du erwartet? fragte er sich zornig. Du hast sie verlassen, und sie hat einen anderen
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