Die Teerose
gefunden.
Einen Moment lang erwog er, sie zu besuchen, nur um sie ein letztes Mal zu sehen. Aber er wußte, das wäre eigennützig und würde sie bloß aufregen. Alles war seine Schuld gewesen, und was darauf folgte, war nur die gerechte Strafe für seine Tat. Er hörte seine Großmutter sagen: »Wir werden nicht für unsere Sünden bestraft, sondern durch sie.«
Er würde sie nicht besuchen, sondern sie ihr Leben weiterleben lassen, genau wie er seines weiterleben würde. Ohne sie. Sie würde nicht zu ihm zurückkommen. Sie würde nicht nach London zurückkehren. Er spürte, wie ein Schmerz in ihm aufstieg, ein niederschmetterndes Verlustgefühl, das ihn beängstigte. Davon durfte er sich nicht überwältigen lassen, andernfalls würde es ihn zermalmen.
Er zog seine Reisetasche unter dem Bett heraus. Noch heute würde er abfahren. Er hatte sein Rückfahrticket. Davor würde er Brendan auf seiner Baustelle besuchen, sich verabschieden und dann zum Pier gehen, um herauszufinden, ob am Abend ein Schiff der White-Star-Linie ablegte und ob es noch freie Kabinen gäbe. Er öffnete die oberste Schublade der Kommode und stopfte seine Sachen in die Tasche. Auch sein Stadtplan von New York lag dort und war auf der Seite aufgeschlagen, wo sie wohnte. Wo er heute hatte hingehen wollen. Er war um einen Tag zu spät gekommen. Um einen verdammten Tag.
Dritter Teil
57
London, Januar 1898
D a, Stan, nimm mehr Kerosin«, befahl Bowler Sheehan. »Der ganze Mist soll richtig brennen, nicht kokeln.«
»Wenn du unbedingt willst«, brummte Stan Christie. »Dann gib noch was her. Manno Mann, du hast vielleicht die Hosen voll.«
Dafür hätte Stan eine verpaßt gekriegt, wenn Bowler ihn hätte sehen können. Aber es war so verdammt dunkel in William Burtons alter Teefabrik, daß er kaum die Hand vor den Augen erkennen konnte. Das einzige Licht kam von einer blassen Mondsichel, deren schwache Strahlen durch die hohen Fensteröffnungen auf verfaulte Teekisten und gewundene Gasleitungen fielen. Alles andere – Türknöpfe, Türangeln, Gaslampen und Kerzenhalter – war längst verschwunden. Von Altwarensammlern weggetragen.
Ein dumpfer Knall ertönte. »Au, mein Schienbein. Verflixt! Ich seh einfach nichts!« brüllte Reg Smith.
Prustendes Gelächter. »Zünd ein Streichholz an«, sagte Stan.
»Du bist wirklich ein Komiker, Stan.«
»Maul halten. Wollt ihr, daß uns jemand hört?« knurrte Bowler.
»Das gefällt mir nicht, Mann«, beklagte sich Reg. »Ich hab mir Kerosin über die Schuhe gegossen. Das stinkt tagelang. Wieso machen wir diesen Scheißjob überhaupt?«
»Burton will die Versicherung kassieren«, antwortete Sheehan. »Jahrelang hat er das Gebäude angeboten, aber keinen Käufer gefunden. Wenn es abbrennt, muß die Versicherung den Zaster rausrücken. Aber nur, wenn es nach einem Unfall aussieht.«
»Wozu braucht der denn Geld von der Versicherung? Er ist doch stinkreich«, sagte Stan.
»Nicht mehr. Sein Vermögen ist nicht mehr das, was es einmal war, Jungs. Er ist schwer auf die Schnauze gefallen, als er vor ein paar Jahren versucht hat, den amerikanischen Teemarkt zu erobern. Und letztes Jahr ist seine Plantage in Indien pleite gegangen. Der Kerl, den er als Manager angeheuert hat, ist mit dem Geld abgehauen. Er hat einen Haufen Schulden am Hals und braucht einen Batzen Bargeld.«
»Das ist Brandstiftung, was wir hier machen«, sagte Stan nachdenklich. »Das haben wir bis jetzt noch nie getan.«
»Schreibt’s in euren Lebenslauf, Jungs«, erwiderte Bowler sarkastisch und setzte sich auf eine Teekiste. Er rieb sich das Gesicht. Daß es so weit hatte kommen müssen. Ein Mann seines Kalibers fuhrwerkte um Mitternacht mit zwei dämlichen Idioten in einer Bruchbude herum. Noch dazu für einen Irren wie Burton, der im Lauf der Jahre, als seine Geldschwierigkeiten zunahmen, immer unberechenbarer und gewalttätiger geworden war. Er hatte gesehen, wie er seinen eigenen Vorarbeiter angriff, und einmal war er sogar auf Stan losgegangen, als er im falschen Moment gelacht hatte. Früher hätte er einen Auftrag wie diesen nicht mal in Erwägung gezogen. Den hätte er den kleinen Fischen, den Amateuren, überlassen. Aber es wurde immer schwieriger, an lukrative Jobs ranzukommen.
Alles war jetzt anders. Nicht wie in den guten alten Zeiten – 1888 vor Jack, pflegte Bowler sie zu nennen – vor Jack the Ripper. Der elende Bastard hatte alles ruiniert. Nach der Mordserie hatten die Rechts- und Moralbehörden von
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