Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
Briefe hatte er sie gebeten, ihn zu besuchen. Er hätte sie und Seamie so gern wiedergesehen und ihren Mann kennengelernt, aber wegen Nicholas’ schlechtem Gesundheitszustand lehnte sie immer ab. Auch sie hatte ihn und seine Familie unzählige Male nach New York eingeladen. Er wäre ja gern gefahren, fürchtete sich aber vor der langen Überfahrt. Sein schwacher Magen hätte die zwei Wochen zu einer Tortur werden lassen. Er war nur einmal auf einem Schiff gewesen, als er mit Michael und Paddy von Dublin nach Liverpool fuhr. Die ganze Reise hatte er über die Reeling gebeugt verbracht, während die Finnegans ihn auslachten. Bei dem Gedanken daran mußte er lächeln.
    Paddy … mein Gott, wie ich dich vermisse, dachte er. Sein Lächeln verlosch. Wenn er nur in dieser Nacht nicht die Schicht des Wachmanns übernommen hätte … dann wäre alles anders gekommen. Sie alle wären noch hier … Paddy, Kate, die Kinder. Das war alles, was Paddy wollte – seine Familie und genügend Geld, sie zu ernähren. Das war doch nicht zuviel verlangt.
    Roddy fröstelte, nicht nur wegen des Nebels. Plötzlich wollte er heim in sein helles, freundliches Haus, wo Grace ihn umsorgte und sein Essen aus dem Ofen holte. Er drehte sich um und ging nach Norden. Nach Hause. Um für eine kurze Zeitspanne all den ungelösten Fällen zu entkommen.

   59   
    N icholas Soames, New Yorks berühmtester Kunsthändler und Liebling der High Society, lehnte sich auf den silbernen Knauf seinen Spazierstocks und sah lächelnd auf die Frau, mit der er seit zehn Jahren verheiratet war. Obwohl sie ihn heute morgen gebeten hatte, zu dem höhlenartigen Backsteinfabrikgebäude von TasTea zu kommen, um ihre neueste Errungenschaft anzusehen, war sie jetzt so in ihre Arbeit vertieft, daß sie sein Kommen gar nicht bemerkte.
    »Die neue Maschine ist herrlich, Nick«, hatte sie ihm beim Frühstück gesagt. »Einfach atemberaubend! Du mußt sie dir ansehen. Komm nach dem Lunch. Versprich’s mir.«
    Und er war gekommen, obwohl er es nicht hätte tun sollen. Die kleinste Anstrengung bereitete ihm neuerdings Schmerzen. Auch jetzt hatte er das Gefühl, als würden ihn winzige Glassplitter ins Herz stechen. Während der letzten beiden Jahre hatte sich sein Zustand dramatisch verschlechtert, aber er schaffte es, einen großen Teil seines Leidens vor Fiona zu verbergen. Er wußte, daß die Wahrheit sie aufregen würde, und mehr als alles andere auf der Welt wollte er alles Unglück von ihr fernhalten. Davon hatte sie schon mehr als genug gehabt.
    Sie stand etwa zwanzig Meter von ihm entfernt und war von dem riesigen, lauten Ungetüm vor ihr vollkommen fasziniert. Nick schüttelte den Kopf. Nur seine Fee konnte an dem ratternden Monstrum aus Eisen Gefallen finden. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wozu es diente oder was es machte. Er wußte nur, daß es für die astronomische Summe von fünfzigtausend Dollar in Pittsburgh gebaut worden war und nichts weniger als den Teehandel revolutionieren sollte. Während er sie beobachtete, wurde sein Lächeln –das zu gleichen Teilen aus Liebe, Stolz und Amüsement bestand – breiter und zauberte einen rosigen Schimmer auf seine bleichen Wangen. »Jetzt sieh dich bloß an!« schmunzelte er. Als sie am Morgen weggegangen war, hatte sie so gepflegt und elegant ausgesehen, aber jetzt erinnerte sie ihn eher an eine Vogelscheuche.
    Ihre Jacke hatte sie über einen Hocker geworfen, als wäre sie ein alter Putzlumpen. Die Ärmel ihrer weißen Bluse waren aufgekrempelt, auf einem befand sich ein schwarzer Ölfleck. Ihr Haar war zerzaust, und aus dem sonst so ordentlichen Knoten hatten sich Strähnen gelöst. Sie schnippte abwesend mit den Fingern und redete mit jemandem, der hinter der Maschine verborgen war. Er sah ihr Gesicht im Profil, ihre Miene war lebhaft und angespannt. Wie sehr er dieses Gesicht doch liebte.
    Während Nick seine Frau betrachtete, ratterte die Maschine plötzlich los, und er zuckte zusammen. Er folgte Fionas Blick zu der Öffnung und sah, daß über ein Förderband rote TasTea-Dosen daraus auftauchten. Fiona nahm die erste Büchse und riß den Dekkel ab. Sie zog etwas heraus, das wie ein kleiner weißer Beutel aussah, und inspizierte ihn.
    »Gottverdammter Mist!« rief sie mit inzwischen mehr amerikanischem als englischem Akzent aus. Sie zog noch einen Beutel heraus und dann noch einen. Dann steckte sie Daumen und Zeigefinger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. Ein knirschendes metallisches

Weitere Kostenlose Bücher