Die Teerose
versuchte, ihre Unruhe zu verbergen, während Mrs. MacCallum ihr von den Wohltaten erzählte, die Paddy ihr erwiesen hatte.
Während die alte Frau weiterredete, schnappte sie eine andere Unterhaltung auf. Zwei Männer, Mr. Dolan und Mr. Farrell, Nachbarn und Dockarbeiter, standen in einer Ecke und redeten über ihren Vater.
»Fünfzehn Jahre in den Docks und nicht einmal ausgeglitten«, sagte Mr. Dolan. »Nicht einmal den kleinen Finger gebrochen. Und dann fällt er aus einer Ladeluke. Das ist doch wirklich sehr merkwürdig, Alf.«
»Ich hab gehört, die Bullen haben Schmieröl auf der Plattform gefunden«, sagte Alfred Farrell. »Sie glauben, es sei von einer Winde getropft, und er sei darauf ausgerutscht.«
»Blödsinn! Hast du schon mal gehört, daß jemand in den Docks so achtlos mit Schmieröl umgeht? Das gibt’s einfach nicht. Es ist doch genauso wie mit den Eheringen – keiner trägt einen, weil’s zu gefährlich ist. Man bleibt hängen, und schon ist ein Finger ab. Das gleiche gilt für Öl. Verschüttet einer was, wird’s gleich weggewischt und Sand drübergeschüttet. Das weiß doch jeder bei Oliver’s.«
Fiona blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatten recht, dachte sie, es ergab keinen Sinn. Sie kannte die Arbeit ihres Vaters gut genug, um zu wissen, daß ein Dockarbeiter nicht leichtsinnig mit Schmieröl umging, genausowenig wie er eine Kiste Muskatnüsse auf eine Teekiste stapelte, um zu vermeiden, daß die Blätter den Geruch annahmen. Sie hatte Roddy über die polizeiliche Untersuchung reden hören, daß die Polizei die Tür der Ladeluke unverriegelt und eine große Ölpfütze auf dem Boden vorgefunden habe. Der Vorarbeiter, Thomas Curran, sagte, er nehme an, daß seine Männer die Luke nicht verriegelt hätten. Es sei eine windige Nacht gewesen, und ihr Vater habe wahrscheinlich gehört, wie sie gegen die Wand schlug. Vermutlich sei er raufgegangen, um sie zu schließen, und habe in der Dunkelheit, nur mit der Laterne in der Hand, das Öl nicht bemerkt. Curran behauptete, er habe einem seiner Männer – Davey O’Neill – während des Tages aufgetragen, die Winden zu schmieren. Vielleicht habe der etwas verschüttet. Es sei eine Tragödie, meinte Mr. Curran. Die Kollegen würden sammeln, und er sei sich sicher, daß Mr. Burton eine Möglichkeit fände, die Familie zu entschädigen. Der Untersuchungsbeamte gab sich mit seiner Erklärung zufrieden und kam zu dem Ergebnis, daß es ein Unfall gewesen sei.
Fiona hatte all dies gehört, war aber durch den Tod ihres Vaters so geschockt, daß sie es kaum registrieren konnte. Ihr Pa war aus einer Ladeluke gefallen. Die Einzelheiten hatten sie nicht interessiert, er war tot. Aber jetzt, da sie ein wenig klarer denken konnte …
»Entschuldigen Sie mich, Mrs. MacCallum«, sagte sie abrupt. Sie ließ die Frau weiterreden und kehrte in die Küche zurück. Sie mußte einen Moment allein sein, um nachzudenken.
Sie setzte sich in den Stuhl ihres Vaters. Es war sonnenklar: Jemand hatte Öl auf den Boden geschüttet, damit er ausrutschte. Warum hatte das niemand bemerkt? Es tat fast weh nachzudenken, so wirr fühlte sich ihr Kopf an, aber sie wollte ihre Gedanken aufschreiben, um die Dinge klar sehen zu können. Dann würde sie Onkel Roddy davon erzählen, und er würde einen leitenden Beamten dazu bringen, eine neue Untersuchung anzustrengen. Es lag auf der Hand, was passiert war, es war ganz offenkundig … es war … lächerlich.
Warum sollte jemand meinem Pa schaden wollen, fragte sie sich. Noch dazu einer seiner Arbeitskollegen? War sie verrückt geworden? Ganz offensichtlich. Sie konnte nicht mehr klar denken. Sie suchte nach einem Grund für den Tod ihres Vaters und klammerte sich an einen Strohhalm.
Sie beugte sich vor, die Ellbogen auf den Knien und den Kopf auf die Hände gestützt. Noch immer konnte sie nicht akzeptieren, was passiert war, noch immer erwartete sie, daß ihr Vater nach der Arbeit durch die Tür treten würde, sich hinsetzte, seine Zeitung las und der ganze Alptraum vergessen wäre. Als sie ein Kind war, war er das Zentrum ihres Universums gewesen, und sie hatte angenommen, er wäre immer da – um für sie zu sorgen und sie vor der Welt und ihren Gefahren zu beschützen. Jetzt hatten sie keinen Vater mehr. Ihre Mutter hatte keinen Ehemann mehr. Er war fort. Wer würde für sie sorgen? Wie sollten sie leben?
Wie während der vergangenen drei Tage überkam sie erneut der Schmerz. Sie brach in Tränen aus und bemerkte nicht,
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